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Archiv-Artikel

Alles so schön brav hier

Das NDR-Kulturjournal ließ seine Zuschauer das schönste Liebesgedicht des Nordens wählen. Das Resultat bestätigt eins zu eins das Klischee vom pragmatischen, wenig gefühlsduseligen Norddeutschen. Kleiner Trost: Kurt Schwitters’ „Anna Blume“ schaffte es auf einen souveränen Platz fünf

DIE SIEGER IN SACHEN LIEBE

Platz 1 DIE LIEBE - von Matthias Claudius -

Die Liebe hemmet nichts; sie kennt nicht Tür noch Riegel, Und dringt durch alles sich; Sie ist ohn Anbeginn, schlug ewig ihre Flügel, Und schlägt sie ewiglich.

Platz 2 BILANZ - von Heinz Erhardt -

Wir hatten manchen Weg zurückgelegt, wir beide, Hand in Hand.Wir schufteten und schufen unentwegt Und bauten nie auf Sand. Wir meisterten sofort, was uns erregt, mit Herz und mit Verstand. Wenn man sich das so richtig überlegt, dann war das allerhand.

Platz 3 DAT DU MIN LEEVSTEN BUEST - Verfasser unbekannt -

Dat du min Leevsten buest, dat du woll weesst. Kumm bi de Nacht, kumm bi de Nacht, segg wo du heesst. Kumm bi de Nacht, kumm bi de Nacht, segg wo du heesst. Kumm du um Mitternacht, kumm du Klock een. Vadder sloeppt, Modder sloeppt, ick slap alleen. Vadder sloeppt, Modder sloeppt, ick slap alleen. Klopp an de Kammerdoer, fat an de Klink. Vadder meent, Modder meent, dat deit der Wind. Vadder meent, Modder meent, dat deit der Wind. Kummt denn de Morgenstund, kreiht der ol Hahn. Leevster min, Leevster min, denn moesst du gahn. Leevster min, Leevster min, denn moesst du gahn.

VON PETRA SCHELLEN

Es ist mal wieder so eine bizarre Aktion, die vielleicht den Lokalpatriotismus befördert, vor allem aber die Bindung der Menschen an ihren Sender: „Das schönste Liebesgedicht des Nordens“ hat der NDR seine Zuschauer wählen lassen. Zur Auswahl standen dabei 50 Gedichte von Schriftstellern, die im Norden lebten, starben oder irgendwann mal dort vorbeischauten.

Das Resultat überrascht kaum: Platz eins hat der gute alte Matthias Claudius gemacht, den man als kulturbeflissener Hanseat der Ober- und Mittelschicht einfach lieben muss – mit seinem aufs Romantischste aufgegangenen Mond und all dem. Das ist zugleich eine ungefährliche Wahl, unterliegt die Qualität dieses empfindsamen Dichters doch keinerlei Zweifel. Eine Geschmacksverirrung, derer sich der Norddeutsche ja keinesfalls bezichtigen lassen will, kann dies also nicht sein. Überdies behandelt das Claudius’sche Gedicht das viel besungene Phänomen auf denkbar unverfängliche Art: Zügig überwindet Liebe hier alle Widerstände. Mit keiner Silbe erwägt der Autor die etwaige Bockigkeit oder gar Wandlung eine oder beider Protagonisten. Es ist eine idyllisierende Perspektive, die auch für pragmatische Norddeutsche keine Fallen birgt. Doch so ketzerisch denkt vermutlich nur der zugereiste Rheinländer.

Letzterem käme eher das auf Rang zwei platzierte Gedicht zupass: „Bilanz“ heißt es und stammt von Heinz Erhardt. Zu dessen humorvollsten Sentenzen zählt der Text allerdings nicht: Buchhalterisch klingt der Titel, vom fast schwäbisch anmutenden gemeinsamen Schaffen handelt das Folgende. Im Gleichklang haben Herz und Verstand zu schwingen: Das ist vernünftig und gleichfalls nordisch. Und dass man auf diese Art alles unter Kontrolle bekam, sprich: erfolgreich abtötete, was einen einst erregte, versteht sich da von selbst. Ob diejenigen, die den Text wählten, die feine Ironie bemerkten und goutierten – man weiß es nicht. Ihnen war wohl wichtiger, dass die Liebenden die ganze Sache zügig und effektiv in den Griff bekamen, um wieder zünftig Handel zu treiben, Geld zu verdienen und Söhne zu zeugen, die dereinst das Geschäft übernehmen. Kann man vielleicht auch verstehen in einer so arg stürmisch-verregneten Gegend wie der hiesigen. Für Gefühlsduseleien ist da weder Zeit noch Platz. Allenfalls für ein kleines Stelldichein – kurz, bevor der Deich bricht und alles in die Fluten stürzt.

Aber man soll nicht ungerecht sein: Mit der Volksweise „Dat du min Leevsten büst“ hat es immerhin ein dialektaler Text auf Platz drei geschafft. Und da geht’s erstmals richtig sinnlich zur Sache, wenn der Vater schläft und die Mutter denkt, das Ruckeln an der Tür sei der Wind. Sicher, das Motiv findet sich auch in rheinischen Liedern – dort allerdings mit Seitenhieb auf den zögerlichen Liebhaber, der partout nicht weiß, wie er in die Kammer oder gar ins Bett der Geliebten kommen soll. Doch im norddeutschen Flachwind mit Gewitterregen gewinnt so ein Stück erst an Format; mit dem Sturm braust – hoffentlich – bald auch die Liebe auf. Ein eindrucksvoll bodenständiger Text, zu dem sich die Zuschauer des NDR da hinreißen ließen.

Mit keiner Silbe erwähnt Matthias Claudius in „Die Liebe“ die Bockigkeit oder gar Wandlung eines oder beider Protagonisten

Obwohl – ein bisschen hegt man schon den Verdacht, dass sie ihn vor allem des Dialekts wegen wählten. Als ob sie – aber das konnte der Einzelne natürlich nicht wissen – unbedingt auch etwas genuin Norddeutsches auf die ersten Plätze hätten hieven wollen, anstatt eine Verrücktheit wie Kurt Schwitters’ „Anna Blume“. Die bekam einen mageren Platz fünf. Man erinnert sich: „Anna, du tropfes Tier, ich liebe dir“, endet dieser Text. Nein, so abgedrehtes auf Platz eins hätte das Image des norddeutschen Gedichtfreundes erheblich beschädigt. Und wenn schon Verrücktes in den vorderen Rängen, dann allenfalls der Autor – also Erhardt –, nicht aber der Text.

Doch all das kann man den Wählern letztlich nicht übel nehmen. Das Ranking wirft ja auch nur ein willkürliches Schlaglicht auf den Geschmack der kultursinnigen Bevölkerung. Und wenn man bedenkt, dass 12,6 Prozent der Stimmen an Claudius gingen und immerhin noch 8,1 an Schwitters, dann ist man fast schon wieder ein bisschen versöhnt mit der Aktion und ihren Folgen.