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Archiv-Artikel

Alles in sich aufgesogen

Diesjähriges Laokoon-Festival auf Kampnagel firmiert unter dem Titel „Theatre and Cyborgs against the Empire“ und präsentiert eine gelungene Melange von Produktionen verschiedener Kontinente

von PETRA SCHELLEN

Es ist ein klein wenig inkonsequent, aber das ist dem Festivalleiter vielleicht ganz recht: „Theatre and Cyborgs against the Empire“ lautet der Titel des diesjährigen Lakoon-Festivals auf Kampnagel, das Ende August startet und das abermals Hidenaga Otori kuratiert hat. Dem Cyobrg Manifesto der Feministin Dona Haraway sei der Begriff des Cyborg entnommen; im Original bezeichnet er einen kybernetischen Organismus, einen Hybrid aus Maschine und Organismus, spielt also nicht nur auf medizinische Implantate an, sondern lässt sich auch auf einen Mix aus Realität und Fiktion übertragen.

Auf subtile Kolonisationsprozesse bezieht Otori das Motto des Festivals; entscheidend findet er die subtile Aneignung vorherrschender Systeme durch die Kolonisierten. Gegen Vereinheitlichung richtet sich Otoris Kritik – ein nicht ganz schlüssiges Argumentat, wenn man bedenkt, dass spätestens dann, wenn alle zu Cyborgs geworden sind, eine wieder uniforme Masse entsteht.

Blickt man auf das Laokoon-Programm, findet sich auch erfreulich wenig Cyborg-artiges. Stattdessen präsentiert das Festival eine gelungene Melange aus gesellschaftskritischen, psychologisierenden und konkret politischen Stücken. Des libanesischen Bürgerkriegs nimmt sich etwa The Atlas Group an, eine Stiftung zur Erforschung der jüngeren libanesischen Geschichte: Recherchen über Autobomben präsentiert Walid Ra‘ad, Documenta-Teilnehmer von 2002; Medien sind Video und EDV-Dokumente. Eine Kartierung des kraterdurchwirkten Beirut hat Ra‘ad so erstellt. Hinterfangen wird die Lecture Performance von Videos Souheil Bachers, eines südlibanesischen Dorfbewohners, der zehn Jahre lang Geisel der pro-iranischen Miliz war.

Subtiler geht das indonesische Teater Payung Hitam im Stück Kaspar vor. Die Formbarkeit der Masse Mensch durch äußere Einflüsse ist hier das Thema, letztlich also die Verformung und Unterdrückung des Individuums durch das herrschende System. Die indische Solotänzerin Maya Krishna Rao wiederum lässt in ihrem Tanz Khol Do (Die Suche) Grenzen zwischen außen und innen, zwischen (politischem) Anlass und Auswirkung auf individuelles Empfinden verschwimmen: Während der Aufstände, die zur Abspaltung Pakistans von Indien führten, spielt das Stück, in dem ein fliehender Vater seine Tochter verliert und darob fast wahnsinnig wird. Acht Männer helfen ihm bei der Suche, am intensivsten und qualvollsten aber sucht er sie in sich selbst. An die beiden Enden der Existenz, an Geburt und Tod, rührt der Tanz Maya Krishna Raos, die die strengen Formen des um 1600 entstandenen Kathakali-Tanzes mit eigenen Gesten verbindet.

Die Frage, ob sie ein Kind mit Down-Syndrom abtreiben sollen oder nicht, beschäftigt ein Elternpaar in Soft des australischen Back to Back Theatre, das sich aus behinderten und nichtbehinderten SchauspielerInnen zusammensetzt: AkteurInnen mit Down-Syndrom spielen das medizinische Personal, das die Eltern betreut; Protagonist des zweiten Teils des Stücks ist der letzte Mann mit Down-Syndrom, dessen DNA nicht zugeordnet werden kann und den man für einen Alien hält.

Nicht weniger politisch: die Frage nach dem Wert des Bildungsbegriffs, nach der Transplantierbarkeit klassischer Stoffe und Ideen in die Moderne, der sich die dänische Gruppe Hotel Pro Forma in Calling Clavigo widmet: In einer Mischung aus Tanz, Mulitmedia-Theater, Performance und Diskussion gehen deren AkteurInnen tradierten Bildungsidealen auf den Grund – ein Thema, dem sich die japanische Gruppe T Factory in Hamlet Clone 2003 nähert: Einen Zusammenhang zwischen Heiner Müllers gesellschaftskritischen Überlegungen in Hamletmaschine und der aktuellen Situation in Japan suchen die AkteurInnen zu erstellen, fokussieren Folgen eines ungehemmten Kapitalismus, der nicht nur die japanische Gesellschaft langsam degenerieren lässt. Denn letztlich sucht jeder Schutz, Hoffnung, Perspektive: So sieht es das Ensemble The Art Fission Company aus Singapur, die zu Arvo Pärts Spiegel im Spiegel und Für Alina fünf Soli tanzt, die sich den deprimierenden Aspekten modernen Lebens widmen. Innere und äußere Abgrenzung umtanzt die John Jasperse Company aus den USA in Giant Empty; Jasperse hat bereits mit Anne Teresa de Keersmaeker gearbeitet und etliche internationale Preise erhalten.

28.8. bis 14.9., Kampnagel