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Alles dreht sich um die „bunte“ Wurscht

Die bundesdeutsche Wurst ist nicht besser, aber schöner / Tomatenleberwurst gibt's nur im Osten / Wundertüten mit undefinierten Inhalten werden der Ernährungsknüller / Ostberliner Fleischer erhalten Nachhilfe im Theken-Styling  ■  Aus Berlin Claudia Haas

Beim Fleischermeister Kayser in der Wolliner Straße gibt's Tomatenleberwurst. 100 g für 93 Pfennig. Der blaßrote Brotaufstrich (garantiert ohne Farbstoff) gehört zu den Rennern unter den 50 Wurstsorten, die der Obermeister der Berliner Fleischerinnung seinen KundInnen anbietet. Auch die Blutwurst mit dezentem Zimtaroma hat sich ihren Platz auf den Butterbroten am Prenzlauer Berg erobert. Grau und langweilig soll die DDR-Wurst sein? Juniorchef Jörg Kayser läßt diese weitverbreitete Kritik für die Produkte aus seiner Wurstküche nicht gelten. Dort werden jede Woche 100 halbe Schweine durch den Wolf gedreht und von den zehn Angestellten „nach altdeutscher Art“ verarbeitet. Stabilisatoren, Geschmacksverstärker, Farb- und Aromastoffe gab es bisher nicht, und der Fleischermeister hofft, auch in Zukunft darauf verzichten zu können. Einblicke in die Geheimnisse der bundesdeutschen Wurstwirtschaft bekam er bei einem Workshop, zu dem eine Gewürzfirma in den Westberliner Fleischgroßmarkt eingeladen hatte: für das gewünschte Endprodukt - zum Beispiel Jagdwurst - greife man zu der Tüte mit der entsprechenden Aufschrift. Fleisch beigeben, fertig. Über die Inhaltsstoffe der Wundertüten hüllten sich die Veranstalter in Schweigen. Jörg Kayser ist skeptisch und bereitet sich anderweitig auf die freie Wurstwirtschaft vor. Das Auge der KundInnen wird anspruchsvoller, also bekommen sie die Leberwurst im Golddarm, Lyoner mit Pistazien und bald auch Mortadella mit Herzchendesign. Die Fleischer üben bereis die freie Preiskalkulation, für die in der BRD beliebte griechische Spezialität Pfannengyros und Schnippelschinken gibt es keinen EVP (Einzelhandelsverkaufspreis).

Wie sich die Preise nach dem 2.Juli entwickeln, weiß noch keiner. Die Kunden decken sich für die ersten Tage (Kühltruhenbesitzer für die ersten Wochen) nach der Währungsunion mit Wurst und Fleisch ein.

Auch die Fleischkombinate müssen zeigen, wozu sie in der Lage sind. Schon jetzt bleibt das Berliner Fleischkombinat auf den viel zu fetten Schweinen sitzen, die Händler kündigen ihre Verträge. Die HO-Fleischereien werden von der Lebensmittelkette Kaiser's übernommen, Wurst und Fleisch sollen nun von den Fleischverarbeitungsfabrik Eberswalde kommen. 250 Wurstsorten muß sie liefern, pünktlich und in einwandfreiem Zustand - sonst geht der Auftrag an westdeutsche Firmen. Verkaufsleiter Klemm von der HO -Metzgerei in der Oranienburger Straße hospitiert an seinen freien Tagen hinter Westberliner Wursttheken. Bisher gingen allwöchentlich etwa zweieinhalb Tonnen Wurst über seinen Ladentisch, irgendwelcher „Schnickschnack“ war nicht nötig, um die Kunden zu locken. Zur platzsparenden Unterbringung in der Vitrine bot sich die Türmchenform an. Jetzt soll das Angebot fächerartig ausgebreitet werden, die teuren Sachen liegen in Augenhöhe, Plastikpetersiliensträußchen setzen farbige Akzente. Freiräume für eigene Ideen nach den langen Jahren der zentralistischen Wurstwirtschaft bleiben nicht: in jedem Laden muß die Lyoner links unten und die Salami halbrechts liegen.

Auf ein Gestaltungselement westdeutscher Wurstvitrinen werden die Ostberliner Fleischer allerdings verzichten müssen. Rosa Leuchtstoffröhren, die das Angebot in ein fleischfarbenes Licht hüllen, gelten als unlauterer Wurstwettbeweb und sind in der DDR verboten.

Das neue Angebot in den Fleischerläden wird auch die Sozialstruktur verändern. Vorbei sind die Zeiten, in denen nach einer halben Stunde das ganze Viertel wußte, daß bei Fleischer Klemm eine Rouladenlieferung angekommen ist und mit Versorgungspaketen durch die Hintertür so manche Freundschaft gepflegt wurde. Viele Fleischer befürchten, daß die KundInnen am 2.Juli ihr neues Geld in die Westberliner Fleischereien tragen werden. Doch vielleicht kommen sie bald wieder zurück. Denn frische Tomatenleberwurst hat noch nicht einmal das Westberliner Edelkaufhaus KaDeWe zu bieten.

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