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Archiv-Artikel

Allein gelassen in Altonas Wildem Westen

Die sozialen Probleme am Osdorfer Born nehmen zu, die pädagogischen Angebote seit Jahren ab. Doch erst wenn Jugendgangs die Polizei zum Einschreiten zwingen, nehmen Öffentlichkeit und Politik davon Kenntnis

Von Marco Carini

Die Schlagzeilen können Klaus Berking nicht wundern. Dass es in den vergangenen Wochen mehrfach zu handgreiflichen Auseinandersetzungen rivalisierender Jugendgruppen gekommen ist, ja, das habe sich schon seit langem angedeutet, weiß der Mitarbeiter des Drogenhilfeträgers „Jugendhilfe e. V.“. Denn „fast drei Viertel aller Sozialarbeiterstellen am Osdorfer Born sind in den vergangenen Jahren abgebaut worden“, peilt der Suchtexperte über den Daumen – um dann mit Blick auf reißerische Bandenkriegs-Berichte der vergangenen Wochen in den Boulevard-Blättern hinzuzufügen: „Das ist dann das Resultat.“

Die in den sechziger Jahren für 11.000 Menschen gebaute Großwohnsiedlung Osdorfer Born, deren bis zu 17 Stockwerke zählende Hochhäuser den Stadtteil überragen, gilt seit Jahren als „sozialer Brennpunkt“. Jede zweite Wohnung in diesem Gebiet ist eine Sozialwohnung, jeder siebte Quartiersbewohner lebt von der Sozialhilfe. Die Arbeitslosenquote liegt zwei Prozentpunkte über dem Altonaer und Hamburger Durchschnitt. Überdurchschnittlich hoch ist ebenfalls der Anteil kinderreicher und auch suchtbelasteter Familien.

Mehr Konflikte, weniger Sozialarbeit am Born

Die sozialen Probleme des Stadtteils konzentrieren sich dabei auf die Ringstraße Kroonhorst: „Wer hier wohnt, lebt im so genannten Ghetto, das sich insbesondere durch seinen beengten Sozialwohnraum mit geringer Wohnqualität auszeichnet“, führt eine aktuelle Studie des „Büros für Suchtprävention“ aus.

Die Studie, die die soziale Lage in dem Quartier unter dem Blickpunkt der Suchtbelastung thematisiert, beschreibt haarklein die Folgen für die hier lebenden Heranwachsenden: „Die Kinder merken, dass sie zuhause nicht gewollt sind und verbringen den ganzen Tag auf der Straße, manchmal auch die Nächte“, heißt es in der Bestandsaufnahme. Der Alltag vieler „Ghetto-Kinder“ sei geprägt von „manifestierter Verzweiflung, Hoffnungslosigkeit und Traurigkeit“. Die Folge: „Jungen tendieren zu aggressiven Reaktionen, Gewaltbereitschaft und einer äußerst niedrigen Toleranzschwelle.“ Dass unter diesen Vorzeichen kleinere Anlässe als Zündstoff für handgreifliche Auseinandersetzungen zwischen rivalisierenden Jugendgruppen ausreichen, verwundert niemanden, der die Strukturen des Stadtteils kennt.

Den zunehmenden sozialen Spannungen steht ein verordneter Rückzug der Sozialarbeit im Stadtteil gegenüber. „Bedingt durch die massiven Haushaltseinsparungen in den zurückliegenden Jahren sind die finanziellen und personellen Ressourcen für die Arbeit vor Ort extrem knapp bemessen“, bringen es Theo Baumgärtner und Catharina Scharping, die AutorInnen der Studie, auf den Punkt.

Ein Jugendzentrum wird zur Verwahranstalt

Seit über zehn Jahren fordern alle Experten vor Ort Straßensozialarbeiter für den Stadtteil – ergebnislos. Die nach langer Diskussion gerade in Aussicht gestellten Stellen wurden nach dem Hamburger Regierungswechsel 2001 sofort wieder gestrichen. „Gerade Straßensozialarbeit wäre hier aber unbedingt notwendig“, betont Elke Krümmel vom „Sozialpädagogisch-sozialtherapeutischen Zentrum“ der Vereinigung Pestalozzi: „Die bestehenden Einrichtungen erreichen bei weitem nicht alle Jugendlichen – wir müssen zu ihnen hingehen und nicht warten, bis sie zu uns kommen.“

Die Defizite im Stadtteil sind offensichtlich. So erreicht ein Gewaltpräventionsprojekt der Pestalozzi-Vereinigung laut Krümmel „nur höchstens 100 von über 3.000 Osdorfer Jugendlichen“. Brechend voll ist das städtische Haus der Jugend am Böttcherkamp. Doch kümmerten sich vor fünfzehn Jahren hier noch sechs feste MitarbeiterInnen um wöchentlich 60 BesucherInnen, so müssen heute halb so viele PädagogInnen einem Ansturm von 300 bis 350 Jugendlichen gerecht werden.

„Wir finden kaum noch Zeit mit den Kids über ihre Probleme zu sprechen, berichtet ein frustrierter Mitarbeiter. Ein Jugendzentrum als Verwahranstalt. Andere Angebote haben mangels Personal bereits dichtgemacht: So schloss etwa der Jugendclub der örtlichen Kirchengemeinde bereits in den 90er Jahren für immer seine Pforten.

Noch schlimmer sieht es bei den Hilfen zur Erziehung aus, über die Familien mit besonders ausgeprägten Problemen betreut werden. Seit der Senat überall in Hamburg Millionen Euro aus diesem Bereich herausgezogen hat um sie einzusparen oder in Richtung offene Jugendarbeit umzuverteilen, läuft hier nicht mehr viel. „Wir können nur noch da eingreifen, wo es eskaliert,“ erläutert Elke Krümmel. Zuweisungen gebe es nur noch bei extrem problembelasteten Familien, Pädagogen müssten sich in der Zeit, in der sie früher zwei Familien betreut haben, heute um deren vier kümmern und auch in ihrer Freizeit arbeiten. „Wir sind zum Feuerwehr-Betrieb geworden“, klagt Elke Krümmel.

Viele Ideen, aber kaum Geld zur Umsetzung

Die erste Reaktion der Politik auf die Eskalation am Born vor knapp zwei Wochen: Mehr Polizei, meist in Zivil, wurde in den Stadtteil geschickt, um erneute Zusammenstöße zwischen den Jugendgruppen mit russland-deutschem und „südländischem“ Hintergrund zu verhindern. Eine Maßnahme, die zur momentanen Beruhigung beigetragen hat, die Ursachen für die Konflikte aber unbearbeitet lässt.

Die zweite Reaktion: Ein runder Tisch im Stadtteil, an dem vergangene Woche neben Behördenvertretern auch die Schulen und sozialen Einrichtungen teilnahmen und der am kommenden Montag erneut zusammenkommt. Ideen und Konzepte, im Vorfeld von Konflikten tätig zu werden, gibt es genug. Die bessere Zusammenarbeit der Träger, verlängerte Öffnungszeiten sozialer Einrichtungen und eine bessere Einbindung der Jugendlichen bei der Entwicklung von Freizeitangeboten sind Teil einer umfangreichen Maßnahmenpalette. Doch viele Ideen werden Wunschträume bleiben: Denn zusätzliches Geld und pädagogisches Personal, das der „wilde Westen“ der Hansestadt dringend benötigen würde, ist nicht in Sicht.

Auch wenn die Konflikte zwischen den Jugendcliquen inzwischen entschärft werden konnten, sind die dahinter liegenden Probleme geblieben. Dass sie zuerst in Osdorf in Gewalt umschlugen, ist für die vor Ort tätigen Pädagogen „reiner Zufall“. „Osdorf ist nur der Anfang“, glaubt eine Sozialarbeiterin mit Blick auf den stadtweiten Sparkurs im sozialen Sektor: „Schon bald wird es überall krachen.“