Alina Schwermer Navigationshilfe: Auf den Dächern der Stadt
Der Blick geht steil in die Tiefe, unter uns der Newski-Prospekt, die inoffizielle Hauptstraße von Sankt Petersburg, im Sommer 2019. Die Autos sind winzig, es sieht ein bisschen aus, als schwebe man über einem Spielzeugteppich. Und direkt unter unseren Füßen ein Hausdach. Wir laufen mit bei einer von diesen Rooftop-Touren. Neuer heißer Scheiß: Die gibt es jetzt von Stockholm bis New York, man klettert mit einem Local auf Dächern rum, und je nach Land gibt es unterschiedliche Sicherheitsvariationen.
Im braven Stockholm zum Beispiel, sagt das Internet, geht es „bestens gesichert durch moderne Kletterausrüstung“ auf offizieller Tour auf Dachwanderung. In Sankt Petersburg gibt man nicht viel auf solchen bürgerlichen Mist. Die Touren sind also eher so semilegal, man kraxelt ungesichert zwischen Kabeln und an Abgründen entlang. Gestorben, versichert uns der Guide, sei noch keiner.
Derzeit sammelt die Welt eher Erlebnisse als Gegenstände beim Reisen. Das, was ich erlebe, nicht das, was irgendjemand erlebte. Das kann man Teil egoistischer Onlinekultur nennen. Aber es ist doch vor allem die emanzipierte Sehnsucht zu agieren, statt zuzuschauen, zu fühlen, statt bloß auf einer Liste abzuhaken. Und eher Zeitgeist- als Generationenfrage.
Die Teilnehmerinnen, ausnahmslos Russinnen, fast alles Frauen, sind sicher schon Mitte 50, also eher Kirchenbesichtigungsklientel, aber offenbar dem Abenteuer aufgeschlossen. „Vor ein paar Jahren haben die Leute in Petersburg angefangen, illegal auf Dächer zu gehen“, erzählt unser Guide im Zwiegespräch. Nein, politisch sei das nicht gedacht. „Einfach ein Trend.“
Der hat sich kommerzialisiert; mittlerweile hätten sie Absprachen mit einigen Hausbewohnern getroffen. Er selbst ist Student, verdient sich mit den Führungen ein Zubrot und erzählt bereitwillig über das Geschäftsmodell, das mit willkürlichen Polizeiaktionen rechnen muss. Manchmal ließen die Cops es ihnen durchgehen, manchmal nicht. „In solchen Fällen bezahlen wir die Strafe.“ Allzu viel scheint die lokale Staatsgewalt nicht gegen das Business zu haben, wenn man die Frequenz betrachtet, mit der zumeist Jungs auf den Straßen ihre Tour bewerben.
Manche Dachausflüge sollen halsbrecherisch sein, unserer ist eher gemächlich: ein Dach, ein Turm, das war’s. Dafür erfahren wir unter anderem, wie der Turm während der Belagerung von Leningrad genutzt wurde, um deutsche Flugzeuge zu erspähen und abzuschießen. Ein Graffito erinnert bis heute daran. Es sind gute Einblicke hoch über den Straßen. Die Damen gehen danach weiter zu einem Palast. Alter und neuer Tourismus Hand in Hand. Und zugegeben, uns gefällt das Selbstporträt über dem Newski-Prospekt.
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