Algerien und das Kriegsende in Europa: Funke des Aufstands
■ taz-Serie: Was am 8. Mai 1945 außerhalb Europas passierte
Der Tag der deutschen Kapitulation war in den französischen Herrschaftsgebieten weltweit ein Tag der Feiern. Schließlich war Frankreich als Siegermacht aus dem Krieg hervorgegangen. In Algerien, wo viele französische Siedler lebten, wurden Freudenmärsche organisiert.
Auf einigen dieser Feiern wehten neben der französischen Trikolore rot-weiß-grüne Fahnen mit Halbmond und Stern: die Flaggen der algerischen Nationalisten, organisiert in der „Algerischen Volkspartei“ (PPA). Die Fahnenträger riefen: „Es lebe das unabhängige Algerien!“ Für die Franzosen war dies eine Provokation. In der Stadt Sétif versuchte die Polizei, die verbotenen Fahnen einzusammeln; mehrere Tote ließen sie zurück.
Es wäre wohl bei dem Zwischenfall von Sétif geblieben, hätte der nicht eine Gerüchteküche in Gang gesetzt. „Man tötet die Araber“, raunten sich die Hirten in den Bergen zu: „In Algier gibt es eine muslimische Regierung, der Tag des Dschihad ist da.“ Und: „Die Amerikaner werden eine arabische Regierung einsetzen.“ Man erinnerte sich nämlich an die Besetzung Algeriens im November 1942 durch US-amerikanische Truppen, die als Befreier begrüßt worden waren, und an den Satz von US-Präsident Franklin Roosevelt aus dem Jahr 1941, man könne nicht „gegen die faschistische Sklaverei kämpfen und gleichzeitig auf der ganzen Welt die einer rückständigen Kolonialpolitik unterworfenen Völker nicht freisetzen“.
Ab dem 8. Mai 1945 verbreitete sich der Funke des Aufstands, vor allem um die Küstenstadt Constantine. Araber zündeten Polizeistationen an. 84 französische Siedler starben.
Wenige Tage später begann auf Geheiß des französischen Präsidenten General de Gaulle der Gegenschlag. Dörfer wurden verbrannt, Rebellenstützpunkte ausgeräuchert, der kommunistische französische Luftfahrtminister schickte sogar die Luftwaffe los. „Auf den Straßen, auf den Pfaden, in den Feldern, in den Flüssen und in den Gräben, überall sieht man offene Leichen, in denen die blutigen Schnauzen hungriger Hunde wühlen“, beschrieb die Zeitung Courrier Algérien das Bild, das die Region um Constantine im Mai 1945 bot. Am Schluß sprach die Armee von bis zu 8.000 Toten, die Algerier von 45.000.
Nachdem der Aufstand niedergeschlagen war, organisierte Frankreich neue Siegesfeiern. In Babor mußten am 25. Mai 5.000 Algerier niederknien und rufen: „Vive la France!“ Sie beugten vor der Trikolore die Stirn in den Sand und sangen: „Wir sind Hunde!“ Dann durften die zuschauenden französischen Siedler den Soldaten „Rädelsführer“ zeigen, und am Abend wurden 400 abgeführt — auf Nimmerwiedersehen.
Viele der beteiligten französischen Soldaten waren Schwarze aus den afrikanischen Kolonien, die für den schmutzigen Krieg besser geeignet schienen. Aber sie zogen ihre eigene Lektion aus dem algerischen Geschehen: Nach ihrer Demobilisierung ab 1945 kam es auch in den afrikanischen Territorien Frankreichs zu Unruhen, worauf Paris Reformen einleiten mußte. Der 8. Mai 1945, als die Befreiung Europas mit der Niederwerfung Algeriens einherging, leitete den Zusammenbruch der afrikanischen Kolonialreiche ein. Dominic Johnson
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