Al-Qaida in Afrikas Sahelzone: "Terrorgefahr an Europas Pforte"
Der Anti-Terror-Koordinator der EU, Gilles de Kerchove, über den wachsenden Einfluss radikaler Islamisten in Afrikas Sahelzone und den al-Qaida-Ableger AQMI.
taz: Herr de Kerchove, welche Sicherheitsrisiken sieht die EU in der Sahelzone?
Gilles de Kerchove: Eine ganze Reihe. In den letzten Jahren nutzten die kolumbianischen Kokainkartelle Westafrikas Küsten als Transitroute Richtung Europa. Jetzt bildet sich eine zweite Schmuggelroute über Mali durch die Wüste heraus. Auf dieser Route kommen auch Haschisch, Zigaretten sowie Waffen aus Tschad und Ostafrika. Und es gibt die illegale Migration. Dies sind die Bedrohungen durch die organisierte Kriminalität, zu denen sich jetzt der Terrorismus der "Al-Qaida im Islamischen Maghreb" (AQMI) gesellt.
Was verbirgt sich hinter "Al-Qaida im Islamischen Maghreb"?
Das ist eine Nachfolgeorganisation der radikalen Islamisten Algeriens. Die letzte bewaffnete islamistische Gruppe Algeriens, die "Salafistischen Gruppe für Predigt und Kampf" (GPSC), taufte sich vor zwei bis drei Jahren in AQMI um und schwor al-Qaida die Treue, weil ihr dies ein besseres Image gibt.
Zwei AQMI-Zellen, genannt "katibas", haben sich im Norden Malis gebildet und führen von dort aus Angriffe in Niger und Mauretanien durch - nicht in Mali selbst, denn dieses Land ist ihr Rückzugsgebiet. Sie knüpfen auch Beziehungen zu den radikalen Islamisten Nigerias. Ein Drittel der AQMI-Kämpfer, darunter die Mehrheit derer in Mali, kommt aus Mauretanien. Die Chefs der Gruppe sind weiterhin Algerier, es gibt auch Kämpfer aus Mali, Niger, Marokko und Tunesien.
Wieso ist der Norden Malis ein gutes Rückzugsgebiet für die Islamisten?
In der Region herrschen gesellschaftliche Spannungen und Unsicherheit. Die Tuareg-Nomadenbevölkerung in den Wüstengebieten im Norden Malis und Norden Nigers fühlt sich vom jeweiligen Zentralstaat benachteiligt. Die Unzufriedenheit der Tuareg ist ein Faktor der Instabilität in zwei sehr armen Ländern, die zudem immer wieder Dürre und Hungersnöte erleiden und praktisch an Europas Pforten liegen!
Können die Islamisten in dieser Situation auch ideologisch punkten?
Aus Pakistan sowie aus Saudi-Arabien ist der Aufbau islamischer Zentren finanziert worden, die den lokalen Islam, der von malekitischen und Sufi-Tradition geprägt ist, zu radikalisieren versuchen. Das ist insbesondere in Mauretanien zu beobachten. Dort haben diese islamischen Zentren viele Richter im Scharia-Recht ausgebildet.
Erkennen die Sahel-Staaten Ihre Analyse des Problems und der Radikalisierung an?
Sie sehen noch nicht die Radikalisierung. Sie sehen eine Terrorgefahr. In religiöse Angelegenheiten mischen sich die Regierungen traditionell nicht ein. Es wäre sinnvoll, den traditionellen, moderaten Islam dieser Länder zu stützen. Aber es ist nicht die Aufgabe der EU, zu sagen, welcher Islam der "gute" ist.
Sie haben eine europäische Sicherheits- und Entwicklungsstrategie für die Sahelzone vorgeschlagen. Wie sieht die aus?
Es gibt keine Sicherheit ohne Entwicklung. Wenn die Jugend im Norden Malis keine Perspektiven sieht, wird sie sich von AQMI betören lassen, denn AQMI hat Geld. AQMI-Kämpfer zahlen zum Beispiel auf den Märkten für Schafe den dreifachen Preis. Wenn keine Sicherheit hergestellt wird, blüht die Kriminalität, der Wüstentourismus bricht ein und es gibt eine Abwärtsspirale.
Also müssen wir beide Dimensionen angehen. So bauen wir Straßen im Norden Malis, in Mauretanien soll eine spezielle Anti-Terror-Justiz entstehen. Wir unterstützen gute Regierungsführung und Dezentralisierung sowie Kleinprojekte zur Arbeitsbeschaffung für Jugendliche. Wir bilden Polizisten, Grenzschützer und Richter aus.
Aber die ständigen Geiselnahmen machen es immer schwieriger, in den sicherheitsrelevanten Regionen zu arbeiten …
Deswegen müssen wir die Sicherheit an erste Stelle setzen. Ich bin ein großer Anhänger des Plans der Regierung von Mali, zunächst Sicherheits- und Entwicklungspole zu schaffen und im Umfeld von Militärbasen den Staat präsent zu machen, zum Beispiel durch Gesundheits- und Bildungseinrichtungen sowie Wasserversorgung.
Heute gibt es im gesamten Norden Malis nördlich der Städte Gao und Kidal keinen einzigen Vertreter des Staates mehr. Die Souveränität des malischen Staates auf seinem eigenen Staatsgebiet muss wiederhergestellt werden. All dies habe ich mit Malis Präsident diskutiert, und sechs bis acht EU-Länder sowie Kanada und die USA wollen dies unterstützen. Frankreich wird zwei Sicherheits- und Entwicklungspole unterstützen, Deutschland und Spanien werden Malis Sicherheitskapazitäten erhöhen.
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