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Aktuelle Studie bestätigt SelektionsprozesseStress vom ersten Schultag an

Viele Eltern glauben, dass ihre Kinder nur mit Abitur die Chance auf ein gutes Leben haben. Das setzt den Nachwuchs schon früh unter Druck. Reiche Kinder habens dabei mal wieder leichter.

Jede Lernkontrolle, jede Klassenarbeit wird zu einer Quelle von Hoffnungen - und von Ängsten, von Anfang an. Bild: dpa

Ein Gymnasium am Niederrhein hat zum Tag der offenen Tür geladen. Hunderte von Eltern durchstreifen mit ihren Kindern das Gebäude. In der Aula lernen sie den Schulleiter und das Lehrerkollegium kennen, sie besichtigen Sporthalle, Computerraum und Chemielabor. Am Nachmittag sind die jungen Gäste zu Probestunden in Englisch, Mathematik, Physik oder Französisch eingeladen. Doch nur einige von ihnen können sich berechtigte Hoffnung machen, hier demnächst unterrichtet zu werden. Den anderen bleibt der Zugang verwehrt - weil ihr Notendurchschnitt nicht reicht oder sie keine Empfehlung für das Gymnasium bekommen.

Der Wechsel zur weiterführenden Schule ist für Grundschüler zu einer enormen psychischen Belastung geworden. Immer mehr Eltern wollen, dass ihr Kind unbedingt Abitur macht: Sonst habe der Nachwuchs später keine Chance auf dem Arbeitsmarkt. Die hohen familiären Ansprüche würden dem Leistungsniveau nicht immer gerecht, warnt der Kölner Schulpsychologe Andreas Heidecke. Für viele Kinder sei es frustrierender, sitzen zu bleiben und das Gymnasium nach wenigen Jahren wegen zu schlechter Leistungen verlassen zu müssen, als von vorne herein etwa die Mittlere Reife anzustreben.

Die Mitbestimmungsrechte der Eltern beim Schulwechsel sind je nach Bundesland verschieden. Nordrhein-Westfalen zum Beispiel hat die Möglichkeiten, den Empfehlungen der Grundschule nach der vierten Klasse nicht zu folgen, massiv eingeschränkt. Wenn Eltern ihre Sprösslinge gegen den Rat der Lehrer am Gymnasium anmelden, müssen die Kinder seit 2007 zunächst einen dreitägigen "Prognoseunterricht" absolvieren. Nur wenn sie in dieser Probephase positiv auffallen, können sie doch noch an die höhere Schulform wechseln. Eine negative Begutachtung im Eignungstest durch die Schulaufsicht hingegen führt zur Ablehnung, dann ist nur der Besuch einer Haupt- oder Realschule möglich. Noch rigider praktizieren die Südländer Bayern und Baden-Württemberg die soziale Auslese: Dort entscheiden in der Regel einfach die Noten.

Der daraus entstehende Stress vom ersten Schultag an setzt Kinder unter Dauerspannung. Immer früher suchen Eltern Hilfe beim schulpsychologischen Dienst. Manche forcieren die kindlichen Versagensängste noch, indem sie den Nachwuchs auch zu Hause ständig auf Leistung trimmen. Eltern sollten sich keinesfalls als verlängerter Arm der Schule betrachten, empfiehlt dagegen Schulpsychologe Heidecke. Er rät zu Ruhe und Gelassenheit gerade dann, wenn der Schulwechsel tatsächlich ansteht. Die Sorgen der Väter und Mütter, ihr Nachwuchs könne abgehängt werden, sei angesichts der starren Strukturen des deutschen Bildungssystems zwar verständlich. Die eigenen Vorstellungen und Wünsche seien jedoch mit denen des Kindes nicht unbedingt identisch, betont Heidecke. Nach seiner Erfahrung haben Kinder "ein ausgesprochen gutes Gefühl dafür, welche Schule zu ihnen passt".

Viele Erwachsene wissen aus eigener Lebenserfahrung, dass der Besuch einer Haupt- oder Realschule die beruflichen Möglichkeiten einschränken kann und ein späterer Wechsel zum Gymnasium auf große Hindernisse stößt. "Es gibt sie, die Mobilität im deutschen Bildungssystem - aber meist nur nach unten", kommentiert Klaus Klemm von der Universität Duisburg-Essen. Zwar behaupten Schulämter und Ministerien, jede Schullaufbahn sei korrigierbar. In der Praxis aber ist das dreigliedrige System in Deutschland wenig durchlässig und enthält, wie die Pisa-Ergebnisse gezeigt haben, auch soziale Sprengkraft.

Nicht nur Begabung oder Können, sondern vor allem die familiären Rahmenbedingungen entscheiden. So erhalten Kinder aus der Ober- und Mittelschicht dreimal häufiger die Empfehlung für das Gymnasium als Kinder aus Arbeiter- oder Migrantenfamilien. "Untersuchungen haben gezeigt, dass Lehrer vom sozialen Hintergrund beeinflusst werden", betont Wilfried Bos, Leiter des Dortmunder Instituts für Schulentwicklungsforschung. Es spielt eine wichtige Rolle, ob die Eltern eines Kindes Ärzte sind oder Hartz IV beziehen.

Das belegt auch eine aktuelle Studie der Mainzer Gutenberg-Universität: Die Kinder gut verdienender Akademiker-Eltern schaffen es sehr viel leichter aufs Gymnasium. Schüler aus niedrigeren sozialen Schichte haben es dagegen weitaus schwerer, auf die hohe deutsche Schule zu kommen. Und das auch in den Fällen, in denen sie genauso gute Zensuren haben, wie ihre reicheren Altersgenossen.

Für ihre Untersuchung trugen die Forscher vom Mainzer Institut für Soziologie Daten an allen 35 staatlichen Grundschulen in Wiesbaden zusammen. Die Bildungsexperten befragten rund 2000 Schüler aus über hundert Klassen. Dabei rückte die Studie erstmals die Faktoren für die Schulempfehlungen in eine eindeutige Reihenfolge. Ergebnis: Vor allem die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Schicht hat Auswirkungen auf die Schulnoten der Kinder und auf den Bildungswunsch der Eltern, sagt Alexander Schulze, Mitautor der Studie der taz. Die Note bleibe bei der Entscheidung der wichtigste Faktor. Neu sei aber, dass Schicht und Ethnie ebenfalls einen großen Einfluss darauf hätten, welche Schule die LehrerInnen ihren Schützlingen empfehlen würden.

Der Frankfurter Didaktikexperte Frank Nonnenmacher kritisiert das deutsche Bildungssystem als "ausgeklügelte Sortierungsmaschine, die den Menschen auf einen bestimmten Platz stellt". So werde jede Lernkontrolle, jede Klassenarbeit zu einer Quelle von Hoffnungen - und von Ängsten. Für Nonnenmacher, der an der Universität Frankfurt/Main unterrichtet, geht es nicht um Gleichheit, sondern "um Selektionsprozesse, die sich die Gesellschaft leistet, um Statuszuweisungen formal zu begründen".

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3 Kommentare

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  • FJ
    Franz Josef Neffe

    Hier sind offenbar alle Opfer eigener unbewusster Autosuggestion.Der beschränkte bewusste Verstand glaubt, wie gewöhnlich, alles zu wissen, doch Weiser Mann spricht mit gespaltener Zunge; irgendwas treibt ihn stets, es anders zu machen, als er sagt. Da wir das "innere" System weder erkennen nich verstehen, perfektionieren wir das "äußere" bis in die Unerträglichkeit und machen die Schule zur immer unsensibleren Du-musst-Schule. Dabei sollte sie doch eine Ich-kann-Schule sein, in der Lehrer (voraus) mit Kindern beGEISTert ihr KÖNNEN entwickeln. GEIST aber ist außerhalb der Ich-kann-Schule ein Fremdwort in der Pädagogik.

    Geist ist lebendig und braucht Nahrung: Anerkennung, Interesse, Herausforderung, grundlegende Solidarität und nicht pausenlose Pathologisierung, Irritierung, Blockierung usw.! Schule ist - perfekter denn je - in der verkehrten Richtung unterwegs. Ich grüße freundlich.

    Franz Josef Neffe, DCI

  • A
    anke

    Ich finde es ausgesprochen reizend von ihm, dass sich der Kölner Schulpsychologe Andreas Heidecke Sorgen macht um die Belastbarkeit fremder Kinder. Er wird gewiss nicht schlecht bezahlt dafür. Schade nur, dass seine Zuständigkeit mit der Volljährigkeit seiner Mandanten endet und außerdem aufs kluge Reden beschränkt ist, wohingegen die moralisch-finanzielle Zuständigkeit der Eltern neuerdings bis zum vollendeten fünfundzwanzigsten Lebensjahr der lieben Kleinen reicht. Mindestens

     

    Dass die familiären Ansprüche in einigen Fällen höher sind als das Leistungsniveau der Kinder, mag sein. Das ist allerdings umgekehrt mitunter auch nicht anders. (Davon, dass ein Leistungsniveau, an dem das Orientieren sich lohnt, eigentlich an der Realität ausgerichtet sein müsste, will ich noch gar nicht reden.) Tritt der zuerst genannte Fall ein, kann dem Kind im Wortsinne nachgeholfen werden. Vorausgesetzt, natürlich, die Eltern langen kräftig in ihre möglichst gut gefüllten Taschen. Im zweiten Fall passiert: gar nichts. Erstklässler nämlich haben in den aller seltensten Fällen bereits die Kompetenz, sich Hilfe zu holen im Notfall. Auch eine eigene Erfahrung, die sie lehren könnte, gezielte Nachhilfe (sagen wir in Mathematik) sei in zwanzig Jahren gewiss mal von ganz gewaltigem Nutzen, geht ihnen ab. Und Geld? Geld für den Pauker haben sie erst Recht keins.

     

    Pecht hat in dem Fall der gehabt, uber den sich seine Lehrer freuen, weil er endlich mal jemand ist, für den niemand die Gynasiallaufbahn fordert (Motto: Später mal von seiner Hände Arbeit zu leben, kann ja so schlimm nun auch wieder nicht sein...). Überhaupt: Die Lehrer! Prüfen, bewerten und honorieren Kompetenzen, die sie gar nicht selbst vermittelt haben!

     

    Stress? Nein, Stress haben die Kinder, deren Elternhaus nicht ihrem Leistungsniveau entspricht, keinen. Nicht in der Schule. Der Stress kommt später. Dann nämlich, wenn eine stressgeplagte bürgerliche Gesellschaft sie für nicht verwendungsfähig hält im Wettbewerb um Pfründe und Logenplätze. Weil sie sich selbst nicht zu erkennen vermag in ihren Hauptschulabsolventen.

     

    Nein, mir ist noch kein Zehnjähriger begegnet, der wirklich ein "Gefühl" gehabt hätte für die Schulform, die zu ihm passt. Ganz einfach deswegen, weil ein einzelner Tag der offenen Tür bei weitem nicht ausreicht, das deutsche Schulsystem, seine Mechanismen und seine Folgen blind zu durchschauen. Für Eltern nicht und für das Heer der Zehnjährigen gleich gar nicht. Wenn mir also ein Grundschüler erklärt, er wüsste ganz genau, wohin er gehört, kann ich nur schmunzeln über so viel treudoofen Elternglauben. Auf Seiten der Schüler, auf Seiten der Lehrer, auf Seiten der Politiker und auf Seiten der Schulpsychologen leider auch. Heulen, schließlich, hat ja doch keinen Sinn.

  • M
    Marc

    Und es gibt sogar eine Lösung für dieses Problem gegen die sich aber die CDU unverständlicherweise wehrt: Die Gesamtschule