berliner szenen: Ahnungslos auf dem Fahrradweg
Ich sitze in der kleinen Unibibliothek am Ernst-Reuter-Platz und kann mich nicht konzentrieren. Ich habe mir einen hellen Platz am Fenster mit Blick auf den Kreisverkehr zum Arbeiten ausgesucht. Ich bin selbst schuld. Der Ernst-Reuter-Platz ist etwas komisch. Er besteht nur aus diesem vierspurigen Kreisverkehr, der die Grünfläche mit Springbrunnen einrahmt, auf der nie jemand ist. Um ihn herum stehen etwas leblose Architekturungetüme aus den Siebzigern, an denen sich die Meinungen spalten. Das ist Großstadt.
Besonders der Kreisverkehr ist faszinierend, ich bewundere das stete Spurenwechseln, den niemals endenden, nicht mal stockenden Strom aus Autos, Fußgängern, Radfahrern. Doch eigentlich ist es nicht der Kreisverkehr, der mich ablenkt. Es ist der rot gepflasterte Fahrradweg, der sich um den runden Platz schlingt. Nervös betrachte ich seit einer Weile eine Gruppe Touristen, die sich irgendwie hierher verirrt hat und nun nichts ahnend auf dem schmalen Radstreifen steht. Ich kann den Blick nicht abwenden. Ich fahre jeden Tag Fahrrad und habe dadurch eine irrationale Wut auf unerprobte Berlin-Touristen angestaut. Gleichzeitig tun mir die Ahnungslosen leid, wohl wissend was gleich passieren wird.
Halb erwartungsvoll, halb unbehaglich warte ich auf irgendeinen Rennradfahrer, der sicher gleich um die Kurve schnellt, total genervt einen großen Schlenker um die Gruppe machen muss und mit einem unverständlichen Wutschrei die geschockten Touristen hinter sich zurücklässt. Aber wahrscheinlich ist es wie beim Reiten. Man sagt doch, dass man, ist man nicht mal vom Pferd gefallen, kein richtiger Reiter sei. Und wenn man nicht mal von einem wütenden Radfahrer angebrüllt wurde, dann war man vielleicht auch nicht wirklich in Berlin.
Marlene Militz
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