Ärzte-Protest: Mit Groll honoriert
Sie protestieren zu Tausenden: Niedergelassene Ärzte sind sauer über die jüngste Honorarreform. In der Folge könnten viele Praxen in wirtschaftliche Schwierigkeiten geraten.
Die Ärzte hatten es sich so schön vorgestellt: Drei Milliarden Euro mehr an Honoraren sollten sie ab diesem Jahr von den Krankenkassen bekommen, eine Steigerung um satte 10 Prozent. Endlich, so glaubten sie, sorge ab Jahresbeginn eine Honorarreform dafür, dass sie wieder angemessen entlohnt werden. Doch heute scheint alles anders zu sein. Bundesweit streiken niedergelassene Ärzte, Praxen bleiben geschlossen und Verbandsvertreter sprechen von einer Katastrophe.
Besonders benachteiligt fühlen sich die Ärzte im Südwesten. "Baden-Württemberg trifft es in dieser Stufe der Reform am härtesten", sagte am Dienstag der Vorstandsvorsitzende der Kassenärztlichen Vereinigung des Landes (KVBW), Achim Hoffmann-Goldmayer. Nur Kollegen in Schleswig-Holstein seien ähnlich stark betroffen. 135 Millionen Euro an Honoraren würde die Reform die Ärzte im Land im Jahr 2009 gegenüber dem Vorjahr kosten. Hinzu kommen weitere 100 Millionen Euro, die wegen des Gesundheitsfonds in der ambulanten Versorgung fehlten. "Viele unserer Praxen sehen sich tatsächlich vor dem wirtschaftlichen Aus", sagte Hoffmann-Goldmayer. Besonders betroffen seien spezialisierte Ärzte wie Urologen, Radiologen oder Orthopäden. Ein Hausarzt auf der dünn besiedelten Schwäbischen Alb müsse nun mit 10.000 Euro weniger im Quartal auskommen als ein Kollege in Thüringen. Nun kommt es heute bundesweit zu Streiks, Orthopäden und Unfallchirurgen schließen ihre Praxen.
Was ist schiefgelaufen? Ärztevertreter klagen, sie seien bei der Honorarreform hereingelegt worden. Der Präsident der Bundesärztekammer, Jörg-Dietrich Hoppe, sagt, statt der vom Gesundheitsministerium versprochenen drei Milliarden Euro zusätzlich erhielten die niedergelassenen Ärzte nur 1,23 Milliarden Euro mehr als 2008. Deshalb fordert er bis zu 1,5 Milliarden Euro extra von den Kassen - und damit von den Versicherten. Ministerium und Kassen kontern, noch mehr als die insgesamt 30 Milliarden Euro Honorare für gesetzlich Versicherte seien nicht drin. Es sei doch klar gewesen, dass die Summe von drei Milliarden Euro zustande komme, wenn man die Zahlen von 2007 und 2009 vergleiche. Jedoch haben die Fachärzte im Schnitt bereits 2008 deutlich mehr verdient als im Jahr zuvor. Unterm Strich erhielten die erbosten Ärzte heute also tatsächlich rund drei Milliarden Euro - oder 10 Prozent - mehr als 2007. Letztlich geht es bei diesem Streit also nicht um eine bloße Geldsumme, sondern um ihre Verteilung.
Der Haken dabei ist die Honorarreform: Seit Jahresbeginn gilt die Neuregelung, die Krankenkassen, Kassenärztliche Vereinigung und Bundesregierung ausgehandelt haben. Nun bekommen die niedergelassenen Mediziner für die Behandlung eines gesetzlich Versicherten pro Vierteljahr eine vorher festgelegte Geldsumme. Die Kassenärztliche Vereinigung Nordrhein beispielsweise zahlt nach eigenen Angaben einem Internisten pro behandeltem Kassenpatienten im ersten Quartal dieses Jahres 35,68 Euro - egal, wie oft der Patient in der Praxis war und wie lange die Behandlung gedauert hat.
Viel zu wenig, kritisieren die Ärztevertreter. Der Verband der Kassenärzte in Nordrhein, unter den insgesamt 17 einer der größten, geht davon aus, dass 55 Prozent aller Hausärzte und 64 Prozent aller Fachärzte weniger Geld bekommen. Ähnliches befürchten beispielsweise die Ärzteverbände in Bayern, Baden-Württemberg und Schleswig-Holstein. Am 17. März gehen die Verhandlungen von Ärzte- und Kassenvertretern in die nächste Runde.
Nicht ganz zufällig klagen die Ärzte in wohlhabenden Bundesländern am lautesten. Sie haben am meisten zu verlieren. Es ist das erklärte Ziel der Bundesregierung, niedergelassene Ärzte bundesweit möglichst gleich zu bezahlen. Nur so lasse sich verhindern, dass bald kein Mediziner mehr in ländlichen Gebieten oder weiten Teilen Ostdeutschlands arbeiten will. Deshalb wachsen die Ärzteeinkommen durch die jüngste Reform unterschiedlich stark. Laut Kassenärztlicher Bundesvereinigung verdienen die Mediziner im Osten neuerdings 12,9 Prozent mehr als 2008, ihre West-Kollegen nur 2,2 Prozent.
Warum klagen dann manche Arztgruppen über massive Einbußen? Die Antwort: Weil selbst die Macher der Honorarreform deren Folgen für die rund 150.000 niedergelassenen Ärzte und Psychotherapeuten offenbar nicht vorausgesehen haben. Aus Ungewissheit sind deshalb viele Mediziner frühzeitig in Panik geraten.
Wie viel Geld sie im ersten Quartal 2009 wirklich verlieren oder gewinnen werden, wissen viele Ärzte bislang gar nicht. Zusätzlich zu den festen Beträgen für die Behandlung von Kassenpatienten, den sogenannten Regelleistungsvolumina, können die Ärzte weitere Leistungen abrechnen, wenn die Kassen diese als sinnvoll einschätzen. Das sind beispielsweise Vorsorgeuntersuchungen. Die Honorare hierfür erhalten sie erst am Quartalsende, diesmal also Ende März.
Die Bundesgesundheitsministerin sieht die Schuld für die verfahrene Situation bei den Kassenärztlichen Vereinigungen. Diese seien nun mal für die Verteilung des Geldes der Kassen verantwortlich, argumentiert Ulla Schmidt (SPD). Wenn Ärzte mit der Aufteilung des Honorars unzufrieden seien, dann mögen die ihren Groll doch bitte gegen ihre Verbandsvertreter wenden. Die Kassenärztlichen Vereinigungen wiederum machen die Kassen für die vermurkste Reform verantwortlich - und ihren eigenen Bundesverband: Die Kassenärztliche Bundesvereinigung habe den geringen Spielraum, den der Gesetzgeber bei der Reform gewährt habe, nicht genutzt.
Jetzt sagt aber Gesundheitsexperte Karl Lauterbach (SPD): "Wir sollten die Kassenärztliche Vereinigung abschaffen." Eine Ampel-Koalition könne dies umsetzen. Dann bekämen die Ärzte eine Gebührenordnung, "und das Honorar fließt von der Krankenkasse direkt zum Arzt". So sei es bereits der Fall in ganz Europa.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Krieg in der Ukraine
Geschenk mit Eskalation
Verein „Hand in Hand für unser Land“
Wenig Menschen und Traktoren bei Rechtspopulisten-Demo
Scholz und Pistorius
Journalismus oder Pferdewette?
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin