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KOMMENTARÄngste der "vaterlandslosen Gesellen"

■ Die Berliner SPD auf dem Weg in die große Koalition

Nach ihrer vernichtenden Wahlniederlage bei den Wahlen zum ersten Gesamtberliner Abgeordnetenhaus lecken die Berliner Sozialdemokraten ihre Wunden: Auf ihrem Parteitag übten sich die schwer geschlagenen GenossInnen im gewohnten Schulterschluß angesichts der Krise und ersparten ihrem Spitzenkandidaten, dem Noch-Regierenden Walter Momper, die Demontage. Die SPD hat im vereinigten Berlin, in dem sich die Konflikte der zusammenwachsenden Teile Deutschlands wie unter einem Brennglas bündeln, eine die Partei lähmende Niederlage erlitten. Mit knapp 30 Prozent der Stimmen ist sie im tiefsten Tal der Nachkriegsgeschichte angekommen, und das in einer Situation, die sich — was das Ausmaß der Probleme für die Stadt betrifft — mit der ebenfalls historischen Situation nach dem Mauerbau vergleichen läßt. Doch 1963 erzielte die SPD unter Willy Brandt in Berlin über 60 Prozent.

Im Vergleich zum Bundesgebiet steht die Berliner SPD vor einem noch größeren Dilemma: Nicht nur, daß sie in „historischer Zeit“ aus der Regierung katapultiert wurde und für eine Neuorientierung eigentlich auf die Oppositionsbank wechseln müßte. Die fehlenden klaren Mehrheitsverhältnisse haben schon seit dem Wahlabend eine große Koalition als so gut wie sicher erscheinen lassen. Die Sozis plagt seither wieder das Schreckgespenst der „vaterlandslosen Gesellen“. Sie fürchten den Vorwurf, die Stadt unregierbar zu machen, sollten sie sich einem „breiten Bündnis der großen Parteien“ in der besonders schwierigen Lage der Stadt verweigern. Und sie fürchten noch mehr, daß die CDU dann sofort Neuwahlen ausschreiben und diesen Vorwurf im Wahlkampf gut verkaufen wird. Die Vorstellung, daß die Partei dann noch weiter absacken könnte, hält selbst die Linken bei der Stange. Aufwind hat jetzt der rechte Flügel der Partei, der schon vor der Wahl eine große Koalition für das geeignete Mittel hielt, um die gefährdete Finanzierung der Stadt durch Steuerbegünstigungen und Bundesmittel aufzufangen. Auch bei der Entscheidung zugunsten des Regierungssitzes erwartet man sich jetzt mit der CDU zusammen bessere Chancen. Unterstützt vor allem durch die GenossInnen aus dem Ostteil der Stadt, die schon seit Mai eine große Koalition praktizieren, verhält sich die SPD staatstragend und pragmatisch. Wo der Ausweg aus der Krise zu finden sein soll, weiß niemand. Als Juniorpartner in einer CDU-Regierung wird die SPD in der Position sein, die vorher die Alternativen innehatten. Sie wird die Kröten schlucken müssen und zu einer inhaltlichen und strukturellen Neubestimmung kaum in der Lage sein. Zwar sind die inhaltlichen Differenzen lange nicht so gravierend, wie bei der rot-grünen „Jahrhundertchance“. Gerade darin liegt aber die Gefahr für die Sozialdemokratie: Um den Preis stabiler Mehrheitsverhältnisse, die die Polarisierung in der Stadt weiter vorantreiben werden, könnte sie in zwei Jahren noch weniger von der CDU zu unterscheiden sein, als jetzt ohnehin schon. Kordula Doerfler

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