Adler, die kleine Kinder von der Alm mopsen? Stoff für Youtube-Fakes und Erziehungsmärchen: Freispruch für den Greif
Tier und Wir
von Heiko Werning
Eine Szene, wie auf einem Ölbild in einer Alpen-Berghütte: Ein mächtiger Steinadler hat ein Kind ergriffen und schwingt sich nun, die Beute fest in den Krallen, hoch in die Lüfte. Ein YouTube-Clip zeigt, wie ein Steinadler über einem Park in Montreal in der Luft kreist, plötzlich zum Sinkflug ansetzt und sich ein auf der Wiese hockendes Kleinkind schnappt. Mit ihm in den Krallen will er davonfliegen, Erwachsene stürzen herbei, der Vogel lässt seine Beute nach einigen Metern wieder fallen. Der Clip verbreitete sich in hoher Geschwindigkeit, nach wenigen Tagen war er über 500.000 Mal angeschaut worden.
Kleiner Schönheitsfehler: Vermutlich ist er eine Fälschung. Es bestehen erhebliche zoologische wie filmerische Zweifel an der Echtheit des gezeigten Materials: seltsamer Vogel, seltsames Verhalten, seltsame technische Probleme. Den Erfolg des Einminüters wird das nicht verhindern. Denn die Geschichten um große Greifvögel, die Haustiere oder kleine Kinder erbeuten, gibt es so lange, wie der Mensch in ihrem Lebensraum siedelt. Im Alpenraum ist es vor allem der Bartgeier, der diesbezüglich als notorisch gilt. Sein veralteter Name Lämmergeier deutet darauf hin. Dabei ist der vermutlich ganz unschuldig, denn die Riesenvögel bevorzugen Aas. Ihren wenig vertrauenerweckend klingenden Namen „Knochenbrechergeier“ verdanken sie dem Verhalten, Knochen von Kadavern aus großer Höhe auf Felsen aufschlagen zu lassen, damit sie zerbersten, sodass der Vogel an das schmackhafte Mark gelangt.
Attacken von Greifvögeln auf Menschen sind selten; am ehesten gehen Bussarde auf Jogger los, wenn sie sich in der Brutzeit von den heranschnaufenden Gestalten gestört fühlen. Das kann zwar durchaus beängstigend sein, ist aber harmlos. Steinadler dagegen können auch größere Beute attackieren, und da so ein Vogel nicht groß Federlesens darum macht, ob er einen fetten Hasen oder eben ein Kleinkind zwischen die Krallen bekommt, sind vereinzelte Unfälle dokumentiert. Das Risiko ist allerdings astronomisch gering, zumal heute, wo die Vögel durch menschliche Bejagung und Umweltgifte extrem selten geworden sind.
Da die Vorstellung so einer Attacke aus der Luft generell und erst recht auf ein über die Almwiese tollendes Kind aber natürlich der Alptraum jedes Erziehungsberechtigten ist, hat sich die Sache tief in den ländlichen Erzählungsschatz gegraben. In den Alpen waren es Lämmergeier oder Nachtkrabb, ein sagenhafter Nachtvogel, die sich unartige Kinder schnappen sollten. Prädikat: pädagogisch nicht so wertvoll. Wie es viel besser und ökologisch korrekt geht, zeigt das Kinderbuch „Lieschen Radieschen und der Lämmergeier“: Der Geier, der das unartige Lieschen abholen soll, lässt sich von dem selbstbewussten Mädchen zum Reittier abkommandieren und bringt es auf dessen Wunsch zu einer Königsfamilie, die aber bald genug hat von der renitenten jungen Dame. So zornige Kinder hole der Lämmergeier, droht der König, während die Königin resigniert seufzt: „Denkste. Der hat sie doch gebracht.“ Man weiß eben nie so recht, woran man ist mit diesen Vögeln.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen