: Adel ohne Tadel
Die Aristokratie hatte immer gute und schlechte Seiten. Ein historischer Erfahrungsbericht aus dem Jahr 1976
Meine erste Begegnung mit dem Adel hatte ich im Jahre 1976. Uli Hoeneß hatte gerade im EM-Endspiel von Belgrad den entscheidenden Elfmeter verhauen und ich mein Zimmer in unserer Riesen-WG aus Verzweiflung hellblau angestrichen. Da erreichte uns per Einschreiben die Einladung zu einer Hausversammlung. Einziger Tagesordnungspunkt: Wer gekündigt wird, wer nicht. Unsere Vermieterin war Freifrau Adelgard von Fournier. Preußisches Junkerinnenvollblut, trakehnerfarben. Ihr Hausverwalter Hagemann ließ uns wissen, dass im Hause wieder ordentliche Sitten einkehren sollten, nachdem das Haus wegen der gestoppten Osttangentenplanung in Göttingen nun doch nicht abgerissen werde. Nur Bewohner mit adeliger Abkunft oder zumindest akademischem Titel dürften wohnen bleiben.
Und tatsächlich: Der hündische akademische Mittelbau, der damals vier der fünf Etagen bewohnte, zeigte brav seine Meriten vor und ließ uns Studenten im Regen stehen. Denn wir hatten alle noch keinen Titel. Das hieß Kündigung! Sie war schon ausgesprochen, als ich vom Bund der Fernschachfreunde die Nachricht erhielt, dass ich mich nun nationaler Fernschachmeister nennen durfte. Mit diesem Dokument begab ich mich direkt in die freifrauliche Kemenate. So freundlich ich auch empfangen wurde, es flossen Tränen: bei mir hinterher wegen der Vergeblichkeit meines absurden Ansinnens, mit dem Titel „Fernschachmeister“ Eindruck schinden zu wollen, bei meiner Gastgeberin während der Schilderung ihres Nachkriegsschicksals. Unvergessen ihre Worte: „Stellen Sie sich vor, junger Mann! Mit nichts kam ich damals aus Ostpreußen hierher in mein Haus! Mit buchstäblich nichts.“
Auch bei mir nichtete inzwischen das blanke Nichts. Alle anderen Bewohner der WG waren in den Urlaub verschwunden. Ich musste fast allein zehn Zimmer aus dem dritten Stock ausräumen. Am Ende schmiss ich das Zeug – Schränke, Fernseher und Kühlschränke – einfach nur noch über die Loggia in den Garten und meldete mich sicherheitshalber beim Einwohnermeldeamt ab, wegen möglicher Regressansprüche.
Aber ich hatte das Glück, dann in der übernächsten WG mit einem echten Grafen zusammenzuwohnen, mit Georg Graf M., Freiherr von Toppolczan und Spätgen. Georg war unübersehbar verarmt und machte alles mit Herzlichkeit wett, in die sich wieder der Geiz mischte. Sein Onkel war am Ende des Ersten Weltkriegs Minister unter Max von Baden gewesen und im September 1944 nach dem Stauffenberg-Attentat auf Hitler hingerichtet worden. Nach der Flucht aus Frankfurt an der Oder in den Westen wohnte Georgs Familie zunächst bei den von Amsbergs. Da hatte Georg als Kind mit Onkel Claus, dem späteren Hollandprinzgemahl von Königin Beatrix, Fechten geübt. Als Georgs Mutter das erste Mal zu Besuch kam, wusste ich nicht, wie ich sie anreden sollte. Sie sagte bloß: „Du kannst ruhig ‚Gräfin‘ zu mir sagen!“ Und dabei blieb’s.
Georg schaffte für unsere WG die Frauen und Geräte an. Gekaufte neue Dinge mied er. Flohmarkt wäre hochgegriffen. Die Waschmaschine hatte nur noch einen Waschgang mit unberechenbarer Temperierung. Alle Kleidungsstücke nahmen irgendwann den Farbton eines entropischen Rosa an. Meine Mutter forderte daraufhin wieder das Recht auf meine Wäsche ein.
Am schlimmsten aber wütete die Geißel Hunger in unserer WG-Küche. Der Adel isst nämlich meistens mit der Hand. Es gibt ihn eben schon länger als Bestecke. Graf Georgs wachende Blicke auf die Füllhöhe unserer Teller machten auch vor Kindertellern nicht halt. Er hatte Frauen mit Kindern gern, denn er war Pädagoge, der schon mal sein Lieblingsgemälde, „Die Hülsenbeckschen Kinder“ von Philipp Otto Runge, über ein Jahr lang nur für sich selbst interpretieren konnte.
Immer wieder aber überkam ihn unstillbarer Hunger. Wie oft hatten wir in großer Runde alles ratzeputz aufgegessen und das Geschirr türmte sich ungespült im Becken, als in der Nacht, sobald alle zu schlafen schienen, ein kratzendes Geräusch aus der Küche kam: Dann machte sich im Schatten der Nacht Graf Georg über die Pfannenreste her und schabte sich durch die Teflonschicht zum Edelstahl vor. Nur Mitbewohner Friedhelm konnte ihn dann stoppen, indem er laut in Richtung Küche zischelte: „Aus! Georg! Aus!“
Als unter unserer Wohnung die Neckermann-Filiale auszog, türmten sich auf dem Hinterhof hunderte leerer Kartons. Der Graf durchwühlte sie alle, stand da wie der Wanderer über dem Schachtelmeer und wurde sogar fündig: in einem Karton war noch ein nagelneuer „Krups-3-Mix“, allerdings ohne jeden Rühreinsatz. Den musste sich Georg dann gegen echtes Geld bei Neckermann bestellen. Die Teile waren doppelt so teuer wie das Gerät im Laden. Nur an diesem Tag, wo die Lieferung per Nachnahme eintraf, war der Graf einmal sehr schlecht gelaunt. Ansonsten obsiegte bei ihm immer der reine Adel des Herzens.
REINHARD UMBACH