Abzocke: Flirt-Bande vor Gericht
Über ein Firmengeflecht sollen sechs Männer rund 700.000 Flirtwillige mit einem SMS-Chat um 46 Millionen Euro betrogen haben. Nun stehen sie in Kiel vor Gericht.
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Per SMS-Chat den Traumpartner finden, darauf hofften viele, doch sie wurden abgezockt. Seit gestern stehen drei mutmaßliche Betrüger und drei Strohmänner vor dem Kieler Landgericht. Ihnen wird gemeinschaftlicher gewerbsmäßiger Bandenbetrug oder Beihilfe vorgeworfen, über ein Firmengeflecht von 350 Unternehmen sollen sie die Flirtwilligen um rund 46 Millionen Euro betrogen haben.
Insgesamt 700.718 Geschädigte hätten durch die SMS-Abzocke Geld im "einstelligen Tausenderbereich" verloren, sagte die Landgerichtssprecherin Susanne Bracker. 53 Geschädigte wurde in der Anklage der Staatsanwältinnen Maya Schönfeld und Frauke Jaeschke beim Prozessbeginn namentlich genannt, eine Frau hatte mehr als 25.000 Euro in die Flirt-SMS gesteckt. Von den 1,99 Euro Gebühren seien zwischen 0,90 Euro und 1,50 Euro in die Taschen der Angeklagten geflossen, sagte Bracker.
Kern des Verfahrens ist die Frage, ob die Kunden über die Identität ihrer Chatpartner vorsätzlich getäuscht wurden - was Betrug wäre - oder, ob sie davon ausgehen mussten, dass am anderen Ende der Leitung kein interessierter Chat-Partner, sondern der Anbieter einer Dienstleistung sitzt.
Über 45 Minuten lang schilderten die beiden Staatsanwältinnen, wie der SMS-Betrug funktioniert haben soll: Das erste Kennenlernen zwischen Kunden und Profi-Flirtern sei häufig über Kontaktanzeigen entstanden - im Internet und in Regionalzeitungen. Die Mitarbeiter - geschulte professionelle Animateure - hätten fiktive Anzeigen gesetzt und auf reale geantwortet - um vorzuspiegeln, "als eine real existierende Person Interesse an einer Beziehungsanbahnung und einem persönlichen Kennenlernen zu haben".
So seien Kunden mit einer "Hinhaltetaktik" gebunden worden. Die Mitarbeiter hätten die "Premium-SMS" per Computer beantwortet, persönliche Daten gesammelt und fiktive Charaktere auf sie abgestimmt - um mit "Ausflüchten" einen Nummernaustausch außerhalb der Chats zu verhindern und Treffen kurzfristig abzusagen.
Das sahen die Verteidiger der sechs Angeklagten anders. Der Text einer Begrüßungs-SMS sei immer der selbe gewesen: "Herzlich Willkommen im SMS-Chat", gefolgt von einem Kostenhinweis und dem Hinweis auf die Allgemeinen Geschäftsbedingungen. Letztere sind eines der Hauptargumente, mit dem die Verteidiger aller Angeklagten die Einstellung des Verfahrens beantragten. Denn dort stehe, dass der Nutzer anerkennen müsse, "dass sich Frauen als Männer und Männer als Frauen ausgeben könnten". Das Erfinden einer Identität sei also rechtlich abgesichert, die Anklage hinfällig.
Weiterhin versuchten die Anwälte, vor der großen Wirtschaftskammer vergeblich, die Aussetzung des Verfahrens zu erreichen. Besonders wurde kritisiert, dass in der Anklage nur 53 Geschädigte genannt wurden, zu den weiteren jedoch keine Angaben gemacht wurden. Auch mangelnde Akteneinsicht wurde den Staatsanwältinnen vorgeworfen.
Der Verteidiger des einen Hauptangeklagten warf den Richtern zudem Befangenheit vor. Er forderte in seinem Antrag, zu prüfen, ob einer der rund 700.000 Geschädigten mit einem der Richter verwandt oder verschwägert sei. Die Anträge würden bearbeitet, sagte Gerichtssprecherin Bracker. Der zweite Prozesstermin steht allerdings noch nicht fest.
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