: Absolut Wodka in Strömen
Eine künstlerische Spaßguerilla geht an die Öffentlichkeit, verwandelt die berühmte russische Seele und ihre schwermütige, schwerblütige Melancholie in Spaß und Aktion, Hintersinniges und Plakatives und zeigt auf diese Weise das reale Elend und ein von Motten angeknabbertes Land: Junge russische Kunst in der Kunsthalle von Baden-Baden
Entsetzt starrt Dostojewski auf die wenigen Chips, die vor ihm auf dem Roulettetisch liegen. Alles weg? Alles weg! Alles verspielt. So ein Kurort hat seine Tücken. Man ist nicht nur krank. Neben der Trinkhalle steht auch noch ein verlockendes Casino. Auf vielen schönen Farbfotos ist sein Lebens- und Leidensweg festgehalten: vor der russischen Kirche in Baden-Baden, vor der Trinkhalle und im Park liegend, an romantisch blauen Blümchen riechend. Was, es gab damals, Ende des 19. Jahrhunderts, noch keine Farbfotos? Dann kann das nur der russische Künstler Wladislaw Mamyschew Dostojewski sein. Er steigert sich gerne in historische Persönlichkeiten hinein, verkörperte Marilyn Monroe und bei einem Auftritt in Berlin sogar Adolf Hitler. Keinen Respekt haben diese Russen.
Und keine Geduld. „Nach Moskau“ wollten sie früher, bei Tschechow. „HA KYPOPT“, auf zum Kurort, hieß lange die Parole. Und so heißt heute eine Ausstellung in Baden-Baden. Schon immer waren Russen hier. ,„Kurort“ und „Baden-Baden“ waren fast Synonyme im Russischen. Manche kamen reich und fuhren arm. Oder erschossen sich gleich. Jetzt sind sie wieder da und zielen auf unsere Kunstvorstellungen. Und wir sind es, die dann reich an Erfahrungen wieder wegfahren. Wir müssen allerdings nicht ins Casino, sondern ein paar Schritte weiter, in die Kunsthalle.
Dort klebt Valerij Koschljakow das Bernsteinzimmer aus braunem Klebeband direkt an die Wand, Genia Chef stellt Märchen als Sexfantasien auf Fotos nach. Von der Gruppe „Blue Noses“ gibt es Filme zu sehen, in denen sich die Marx Brothers (ohne Karl) mit Monty Python vereinigt haben: Kürzestepisoden, in denen es kracht und stinkt, Darwin und ein Affe sich zuprosten, der „Absolut Wodka“ in Strömen über die aufgepappten blauen Nasen fließt, Bin Laden und Putin auftreten, eine Frau ausgestreckt und hüllenlos auf einem kleinen Küchenschränkchen liegt: So eine fröhliche, verspielte russische Bande von Unsinn- und Vielsinnmachern hat man lange nicht mehr gesehen. Ohne Respekt.
Ein bisschen ist es in der ehrwürdigen Kunsthalle wie Jahrmarkt: An einer Bude kann man mit Farbpistolen auf Van-Gogh- und Degas-Bilder schießen. Man läuft durch einen überlebensgroßen, bedrohlich-gemütlichen Lollipop-Lutscher-Wald und an einer Gruselgalerie von Totenköpfen vorbei, die mit allerlei Kleinkram, Federn, Zöpfchen, Schleifen und Knöpfchen, Mozartkugeln und bunten Strähnchen verziert sind. Man steht in einem verdunkelten Raum, hört Gruselmusik, sieht schwankende Gespenster und wird fast körperlich erfasst von einem schwindelbangem Grausen: Plötzlich ist man in seine Kindheit regrediert. Ebenso in Alexej Kostromas mit beleuchteten Federn gefüllten Särgen: „Besser ewig liegen als ewig stehen“ heißt es. Auch hier wird man in einen Schauder versetzt, in allerbeste Edgar-Poe-Stimmung, man wird zurückgeworfen in seinen Narzissmus, kann sich gleichzeitig wohl und wehe fühlen, sich gruseln und den Horror genießen.
Malerei kommt kaum vor, das war den Kuratoren Matthias Winzen und Georgij Nikitsch zu langweilig. „Es gibt keine gute Malerei in Russland“, sagte Nikitsch, „nur erfolgreiche, modische, am Markt orientierte.“ Fotos sind zu sehen, Aktionen, Videos, Objektkunst, verformte Alltagsgegenstände, Konzeptuelles. Auch soziale und politische Aktionen, die im herrschaftsdiffusen Russland überall möglich sind.
Wo ist die „russische Seele“? Die schwermütige, schwerblütige Melancholie? In der jungen russischen Kunst, wie sie die Kunsthalle zeigt, hat sie sich in Spaß und Aktion, Hintersinniges und Plakatives aufgelöst. Sie antwortet auf die aktuellen Depressionen und das reale Elend und konstatiert ein von Motten angeknabbertes Land. Tatsächlich: In der Installation von Wasilij Slonow wird das Land gefressen, vom Militärmantel bleibt nur noch der „Moskau“-Knopf zurück. Eine künstlerische Spaßguerilla geht an die Öffentlichkeit, rüttelt an Vorurteilen, facetten- und anspielungsreich, konsequent antiideologisch, ironisch und manchmal aggressiv, vieldeutig, improvisiert oder, wenn sie es will, auch technisch perfekt.
Wie im Spiegel von Wikentij Nilin, vor dem man plötzlich in einem kleinen Räumchen steht: Man sieht zwar die Welt um sich herum, aber nicht sich selbst. Eine technische Spielerei mit vielfachem Tiefgang: Man ist weg und muss sich mühsam wieder seiner selbst vergewissern.
GEORG PATZER
Bis zum 27. Juni, Katalog (Wienand-Verlag), 27 €