Abschlussbericht zu Kindesmissbrauch: Die Aufklärung hat erst begonnen
Fehlende Therapie, keine wirksame Entschädigung - die Arbeit der Missbrauchsbeauftragten Bergmann zeigt, wo die Probleme liegen. Doch der politische Wille zur Veränderung fehlt.
BERLIN taz | Die Pressekonferenz der Unabhängigen Beauftragten Christine Bergmann hatte noch nicht begonnen, da war schon klar, dass dieses Unterfangen kein Erfolg werden würde. Die Räume 3+4 der Bundespressekonferenz, bekannt als Abstellkammern für nachrangige Themen, waren für die Vorstellung des Abschlussberichts zur Aufarbeitung von sexuellem Kindesmissbrauch zum Bersten gefüllt, die Atmosphäre erinnerte an übervolle Seminarräume. Die Erkenntnis des Tages: Das Interesse der Öffentlichkeit, auch das voyeuristische, ist riesig. Aber das Angebot ist dürftig.
Bergmann war im März 2010 von der Bundesregierung zur Aufarbeitung von sexuellem Missbrauch in Institutionen und Familien berufen worden; ihrer Berufung voraus gingen die Missbrauchsskandale auf dem Berliner Canisius-Kolleg und weitere katholische Schulen sowie der reformpädagogischen Odenwaldschule.
Das alles sollte Christine Bergmann aufarbeiten. Doch am Dienstag verloren sie und ihr Team sich darin, 40 Powerpoint-Folien durchzujagen.
Auf die entscheidenden Fragen aber hatte Bergmann, die im Oktober ihren Job niederlegen wird, keine Antwort: Werden die Telefone der Missbrauchs-Hotline, auf denen seit Mai 2010 insgesamt 11.000 Anrufe eingingen, im Oktober abgeschaltet? "Davon gehe ich nicht aus", sagte Bergmann, "aber wir müssen noch kämpfen". Tatsächlich dürfte die Chancen schlecht stehen. Das Gleiche gilt offenbar auch für die von Bergmann geforderte neue Missbrauchsstiftung mit Clearing-Stelle.
Vielleicht ist die verbindliche Frau Bergmann, Gerhard Schröders einstige "Ministerin für Gedöns", doch zu nett, um irgendetwas durchzusetzen.
Das ist richtig. Und doch ist es auch falsch. Das Problem ist nicht Bergmann, die Politik ist das Problem: Im Jahr 2003 verabschiedete die Bundesregierung einen Aktionsplan zu Missbrauch, weil der - so der wutschnaubende Text - ein "abscheuliches Verbrechen" sei, das "mit allem Nachdruck verfolgt und geahndet werden" müsse.
Bergmann durchsuchte und evaluierte nun als Unabhängige Beauftragte die ganze Republik. Und fand dabei so einiges: zersplitterte Zuständigkeiten, ein zerfetztes "Netz" von Therapie-Einrichtungen. Männer, so Bergmann, Migranten und Menschen auf dem Land hätten quasi kein Angebot. Und sobald es um spezielle Therapien für schwer Traumatisierte gehe, sehe es ganz schlecht aus.
Die 71-Jährige hat alles getan, um Licht in die Blackbox Missbrauch zu werfen, sie hat alle 2.000 Briefe, die eingingen, selbst gelesen. Sie hat 4.500 Anrufer der Hotline eingehend befragen lassen, ja, sie hat sogar die deutschen Therapeutenkammern per Mail interviewen lassen. Das Ergebnis war immer das gleiche: Missbrauch ist überall, in allen Institutionen, ob Familie, Schule, Internat oder Klinik, ob Kirche oder Heim. Der Missbrauch in der Familie hat weibliche, der in der Institution männliche Opfer. Die Täter sind fast immer Männer - das kennt man, aber es gibt nichts bei Missbrauch, was es nicht gibt.
Einer der schockierten Telefon-Therapeuten Bergmanns erzählte von einem Mädchen, das dem Beichtvater erzählte, es sei vom Vater vergewaltigt worden - worauf der Pfarrer sie umstandslos ebenfalls missbrauchte. Und: Auch Frauen missbrauchen, als Komplizen ihrer Männer beim Drehen von Kinderpornos oder als Mütter, die sich angeblich fürsorglich dem Genital ihres Kleinkindes nähern.
Die Opfer brauchen ewig, bis sie sprechen
Die Opfer sind sehr jung, wenn ihnen die Pädokriminellen die Fallen stellen. Die Hälfte derer, die sich therapieren lassen, waren zwischen sieben und zwölf, als die Täter das erste Mal zuschlugen. Aber die Opfer brauchen ewig, bis sie sprechen: Im Durchschnitt waren sie 46 Jahre alt, die sich bei der Hotline meldeten. Die ältesten waren über 80 Jahre alt, das rührte und entsetzte Bergmanns wackeren Experten Jörg Fegert, einen Ulmer Professor, den eigentlich nichts mehr erschüttern kann.
Aber Bergmanns Wühlarbeit hat ihr zugleich eine ungeheure Last auftragen: Wie soll sie, die unabhängige, aber machtlose Beauftragte die Löcher stopfen, die sie selbst aufgezeigt hat? Unmöglich. Bergmann hat es erst am Runden Tisch mit den Täterorganisationen zu tun, als den Institutionen, die bislang alles getan haben, um zu vertuschen und möglichst wenig zu entschädigen. Und danach hat sie es mit fünf Bundesministern zu tun, die alle irgendwie zuständig ist. Kein Wunder, dass sie immer wieder die Medien bat, ihr zu helfen und viel zu veröffentlichen.
Aber das hilft nichts. "Ich habe mit den Auftrag nicht selbst gesucht," sagte Bergmann trotzig, "das ganze Kabinett wollte das. Und wenn die materielle Vorschläge wollen, dann sollen sie sich nicht wundern, dass ich ihnen die liefere."
Als die Pressekonferenz begann, lautete die erste Frage: "Wie wollen sie den Missbrauch des Missbrauchs bei der Entschädigung verhindern? Welche Beweise müssen die Missbrauchten vorlegen?" Da erschrak Christine Bergmann, denn sie wusste: Die Aufklärung hat erst begonnen.
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