Abschluss des Pop-Kultur-Festivals: Wir können tanzen und erkennen
Dieser Reichtum an Lebensformen und Biografien ist real! In Berlin zeigte sich die Vielfalt einer Musikszene, die sich aus toxischen Entwürfen löst.
Weiblich, divers, inklusiv: die Gesichter des Berliner Festivals Pop-Kultur auf Bannern und Plakaten. Der Sternenhimmel, in den die Musik sich bewegt und der viel plakatiert wurde, ist alles andere als eine rührselige Fantasie. Es geht um eine Reise ins Offene, die vieles zurücklässt und Neues braucht, um ganz anderes zu finden. Melancholie und neue Einsätze prägten die drei Festivaltage. Altlasten der populären Musik wurden zurückgelassen. Ohne Bedauern zwar und mit viel reicheren Entdeckungen, doch der Abschied bleibt nicht ohne Trauer, Brüche und Selbstzweifel.
In vielen Diskussionsrunden (etwa zwischen der Schauspielerin und Autorin Samira El Ouassil und Lisa Ludwig, dem Rapper Ben Salomo und dem Journalisten Jens Balzer) ging es um diese Brüche – sie wurden auch in Konzerten hörbar: Die Idole der Musik, ja ganze Genres blieben nicht unkontaminiert von den Verbrechen und der Gewalt toxischer Männlichkeit, zerstörter Beziehungen, von Antisemitismus, Sexismus, Rassismus und Ableismus.
Doch ohne die Alben, Konzerte, Musikvideos von Michael Jackson, R. Kelly, auch von David Bowie – dessen Sex mit Minderjährigen gut bekannt ist – wären Musikliebhaber nicht zu denen geworden, die sie heute sind. Kann ich aber noch genauso „Bad“ hören wie damals? Kann ich die Sexismen von 2 Live Crew noch naiv hören? Sollte MTV’s Video Vanguard Award, der an Missy Elliot verliehen wird, nicht besser ihren Namen tragen, anstatt den eigentlich Namensgebenden und Unaussprechlichen M.J. tunlichst zu unterschlagen? Kann ich mich noch an Morrisseys stolzem Welthass der ersten Smiths-Alben ergötzen – wo ich doch weiß, welchen Nationalismus und welche Altmännergalle er inzwischen versprüht? „Those days are over“, wie Mona Mur in ihrem Konzert deklamierte.
Vehikel für Markenbotschaften
Holger Schulze ist Professor für Musikwissenschaft in Kopenhagen und leitet dort das Sound Studies Lab.
Die Kuratoren Martin Hossbach und Christian Morin zeigten in der Berliner Kulturbrauerei mit ihren großen, kleineren und winzigen Konzerträumen, auf den Plätzen und unter Pavillons die ganze Komplexität einer Musikszene, die sich von Bindungen an diese alte, toxische Popkultur verabschieden will.
Diese neue Alltagsmusik aber – die in der englischsprachigen Welt gerne vernacular music genannt wird – will nicht stets Vehikel für Markenbotschaften und heroisierende, heteronormative Machtdarstellungen und Beziehungspolitiken sein. Es werden andere Einsätze gesucht. Der spielerische Reichtum dieser Musik umgreift dabei die Frauen, die zu ausgesuchten Konzerten gebärdeten, sowie den Zugang, der für Rollstuhlfahrer sichergestellt wurde, und das Awareness Team, das kontaktiert werden konnte.
Diesen Reichtum trägt diese Musik in sich: ein Reichtum an Lebensformen, Selbstdarstellungen, Biografien und Körpern, Gesten und Auftritten, der real ist. Keine erfundenen Paradiese androzentrischer Omnipotenz, sondern reale Einsätze, mit denen Musikerinnen und Sängerinnen, Produzentinnen und Performerinnen ihre Konzerte spielen und bedachtere Sensibilitäten vortragen.
Kaum gebremste Wut
Blues und Melancholie trug das Konzert der New Yorker Punkerin Little Annie und ihrer Band: im kleinem Clubformat und mit gloriosen Musikern wie Paul Wallfisch (u. a. von den Swans), die der fragilen Energie dieser Frau einen klassischen Grund bereiteten aus Bass, sanftem Schlagzeug und spielerischem Keyboard. „You don’t know what love is / Until you learn the meaning of what love is“. Sie singt aus der Biografie der Sehnsüchte und der Zerstörungen; Empfindungsgenauigkeit, also eine kaum gebremste sardonische Wut, überträgt sie. So simpel der Blueston scheint, singt ihr Körper und entfalten die Musiker sorgsam die Nebenwege und Sackgassen hinter ihren Zeilen.
Im Maschinenhaus der Kulturbrauerei ist um sie ist eine stille, besonnene Stimmung. Zwischen den Liedern spricht sie kurz mit Rollstuhlfahrern direkt vor der Bühne, sie spendet Komplimente an Paare, die sich umarmen. Wärme und Intelligenz strahlt Anne Bandez alias Little Annie aus. Zartheit und brachiale Kraft verschmelzen in ihrem Vortrag.
Einige Stunden später geht Planningtorock im Kesselhaus auf die Bühne, alias Jam Rostron. Jam singt und biegt sich, bewegt die Hände, weist auf die Frau, die daneben Gebärdensprache tanzt. Zur Musik spricht Jam über die Verwandlung, die vor Jahrzehnten ihre Mutter erlebte: Eine Platte aufzulegen und morgens ein wenig zu tanzen lädt auf mit Stimmungen und Infusionen, Euphorie und Heimat, die keine Erwerbsarbeit bietet. Jam Rostron sagt: „Music is my home.“
Wege in diese Geschlechterrolle
In einer Diskussion mit Hengameh Yaghoobifarah und der queerfeministischen Sorgentelefonberaterin Emotional Labor Queen erzählt Jam, welche Befreiung der Weg in die eigene Musik war. Der Weg in ihre Persona und Geschlechterrolle, von Janine zu Jam, jenseits binärer Zuschreibungen geschah durch Klänge und ihre Sensibilitäten. Körper werden durch Musik gebaut. Durch swingen und sliden und sich anderes lieben. „Kissing my genders / In our bedroom light“.
Das Konzert des Hamburger Labels One Mother, am Freitagabend, bildete vermutlich einen heimlichen Höhepunkt. Drei Frauen des feministischen Kollektivs standen auf der Bühne. Natascha P. und Preach sangen und performten um Blackfishing („Plötzlich hast du dicke Lippen / Wo kommt auf einmal der Arsch her?“) und eine Jugend als Arbeiterkind. Durch Beats, Samples und elektronische Loops geht es auch hier um Schmerzen und Einsamkeiten, das Finden einer Persona. Langsam, nachdenklich, auch hier die Musik – selbst wenn die Teilzeithedonistin mit Natascha P. sich wegtanzt: „Deine Ängste, Deine Sorgen – zu krass!“ Diese Aggression weiß, woher ihr Schmerz kommt und Freiheit sich bietet: „Bin ein Laie, ja, ich fühl mich frei.“
Konzerte der Goldenen Zitronen, von International Music und Deerhoof hörte ich auch. Doch diese austrainierten Maschinen und ihre beeindruckenden Alben, die ich vom Abspielgerät kaum runterbekam, setzten keine neuen Schwerpunkte. Ein Abschied, Gebrochenheit in Genres, Stilistiken und Bühnenformaten auch hier. Die größte Kraft ging von Konzerten aus, die anders einsetzten. Einsätze, die aus Gespür und kleinen Wahrnehmungen der Musikerinnen sich speisten, nicht vor allem aus Bühnenstolz und reiner Professionalität. Ein Club- und Kammermusikcharakter dominierte, auch bei Marjaa Nuur und Ruum, bei Lali Puna; selbst Auftritte der US-HipHop-Crew Shabazz Palaces oder von Okhzarp und Manthe Ribane (veröffentlicht auf dem Hyperdub-Label von Kode9), die Energien in Publikum und Tanzenden pulsten, taten dies nicht ungebrochen. Worte waren wichtig und trugen einen tieferen Flow.
Ausdruck der Wandlungen
Hinter allen Konzerten und Gesprächen, Filmen (wie dem zweistündigen Monster an Künstlerbiografie „Where Does a Body End?“ von Marco Porsia über Michael Gira und die Swans), den Fotografien „Nach Dem Mauerfall“, 1990–1995, von Daniel Biskup, hinter dem Pop-Hayat und der Çaystube, hinter den Auftragsarbeiten, die Komponisten und Performern ganz andere Freiheiten erlaubten, versteckte sich tatsächlich noch ein zweites Festival. Von 11 bis 17 Uhr wurden etwa 40 Workshops angeboten für junge Musikerinnen von Performerinnen, von Musikpraxis über Marketing Music und kulturwissenschaftliche Perspektiven. Die jüngeren Performer lernten von den erfahreneren, ein weiterer Ausdruck der Wandlungen verstehen, die sich abzeichnen.
Popkultur war bei diesem Festival kein Geniegeschäft und Ikonenwunder. Sie wird gesucht und gelernt, erfahren, Künstlerinnen und Künstler wachsen hinein. Einfach ist nichts hierbei. Doch wir tanzen und erkennen, wie Vergiftungen langsam herauswachsen. Sehr langsam, doch es wurde Zeit. Das ist die Melancholie: Neue Einsätze tragen weiter.
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