: Abschied von der Planwirtschaft
Kulturpolitische Strukturreformen sind keineswegs nur finanzpolitisch, sondern auch inhaltlich notwendig ■ Von Helga Trüpel
Die 68er-Bewegung hatte, wenngleich vermittelt, erhebliche Auswirkungen auf Begriff und Ziele bundesdeutscher Kulturpolitik. Im Zuge einer Neuentdeckung, gelegentlich auch Neukonstruktion der Sozial- und Arbeitsmarktpolitik und als Folge einer gesellschaftstheoretischen, zum Teil linksradikal fundierten Neudefinition aller Politikfelder, entstand das Motto von der „Kultur für alle“, vielfach ausdrücklich als Kampfbegriff gegen die „bürgerliche Kultur als Herrschaftskultur“ gewendet.
Die Aufnahme des gesellschaftspolitisch überfälligen Ziels der Teilnahme aller Bürgerinnen und Bürger am kulturellen Leben in die Topoi staatlicher Kulturpolitik verursachte einen Boom sozio- kultureller Aktivitäten und Einrichtungen. Die Aktivistinnen und Aktivisten der soziokulturellen Szene gingen dabei – und gehen mitunter noch – davon aus, daß das gesellschaftsverändernde Potential kultureller Eigenarbeit unmittelbar in generelle politische Selbsttätigkeit umschlagen und seinen Ausdruck in solidarischen Aktionen der bis dahin bildungs- und kulturpolitisch Benachteiligten finden werde.
Standortfaktor und Selbstvergewisserung
Diese Vorstellung von Kulturpolitik ist, nicht zuletzt wegen ihrer primär sozial- und beschäftigungspolitischen Umsetzungsformen, weitgehend gescheitert. Sie wurde in den 80er Jahren in den meisten (ökonomisch erfolgreichen) Bundesländern abgelöst vom Slogan „Kultur als weicher Standortfaktor“, dessen Voraussetzungen eine mittelfristig relativ stabile ökonomische Konjunkturphase einerseits und die bereits in den 70er Jahren etablierte Instrumentalisierung von Kulturpolitik für andere Politikfelder andererseits waren. Damit wurde Kulturpolitik, relativ gesehen, aufgewertet und vor allem als unter ökonomischen Aspekten interessant betrachtet.
Kultur wurde danach definiert als Element der kommunalen Stadtentwicklungs-, Ansiedlungs- und Wirtschaftspolitik, in deren Rahmen sie zur Attraktivität der Kommunen beizutragen hatte. Zur Zielgruppe für die Kulturpolitik wurden damit nicht die bereits vorhandenen Einwohnerinnen und Einwohner, sondern vorrangig potentielle Neubürgerinnen und -bürger – etwa Unternehmen und deren Beschäftigte –, die das Steueraufkommen der Kommunen erhöhen sollten. Trotz dieses „Booms“ ist auch diese Form der Kulturpolitik als gescheitert zu betrachten. Das liegt nicht allein an der Verschlechterung der ökonomischen Großwetterlage. Vielmehr hat das Verdikt von Karl Kraus, schneller und mehr sei nicht unbedingt auch besser, auch für die skizzierte Form von Funktionalisierung der Kulturpolitik Gültigkeit.
Derzeit allerdings ist nun das Gegenteil von „Schneller und mehr“ zu beobachten: Unabhängig von inhaltlichen Argumenten wird das flächendeckende Einschmelzen der kommunalen Kulturetats allein mit der herrschenden Finanzmisere begründet. Dabei wird im allgemeinen nach dem seinerzeit auch bei der Zuschußvergabe angewandten Gießkannenprinzip gespart; kulturpolitisch ausgewiesene Schwerpunktsetzungen sind nur selten erkennbar.
Wenn diesem Prinzip bewußte kulturpolitische Entscheidungen entgegengesetzt werden sollen, andererseits aber nur sehr begrenzte Mittel zur Verfügung stehen, dann ist zunächst festzulegen, welchen Stellenwert Kunst und Kultur in der Gesellschaft haben, was sie leisten können und was nicht. Es ist selbstverständlich, daß jede, aber auch wirklich jede derartige Festlegung mit guten Gründen angreifbar ist. Dennoch ist es unabdingbar, einen solchen Bezugsrahmen für Kulturpolitik zu beschreiben und damit Maßstäbe für die Beurteilung kulturpolitischer Vorgaben zu bieten. Kunst und Kultur sind, wie sich in den siebziger Jahren wieder einmal gezeigt hat, keine Instrumente für unmittelbare Gesellschaftsveränderung. Sie bieten keine Handlungsanleitungen. Die Degradierung von Kunst und Kultur zu Mitteln des Machterhaltes oder -erwerbs hat Tradition; es gehört zu den unverzichtbaren Maximen kulturpolitischen Handelns, dieser Tradition zu widerstehen und Kunst und Kultur als für sich selbst genommen förderungswürdig anzuerkennen.
Denn Kunstwerke, künstlerische Produktion und „Kulturgüter“ im weitesten Sinne dienen der Bildung und Stabilisierung kultureller Identität, die als eine der wichtigsten Voraussetzungen für die angstfreie Anerkennung der Gleichwertigkeit von Ungleichem angesehen werden muß. Ein aufgeklärtes gesellschaftliches Klima wird grundsätzlich geprägt von der kulturellen Bindung der Menschen, deren ästhetisches Empfinden und Urteilsvermögen sich in der Auseinandersetzung mit Kunstwerken und Kulturgütern entwickeln. Kulturpolitik hat daher die Aufgabe, dazu beizutragen, daß Werte, Figuren und Traditionen der eigenen – abendländischen – Kulturgeschichte übermittelt werden. Erst diese Selbstbefragung und Selbstvergewisserung machen es möglich, sich mit fremden Kulturen gelassen auseinanderzusetzen.
Ästhetische Qualität vs. Beteiligungsrituale
Hohe Qualität in der künstlerischen und kulturellen Produktion befördert die „ästhetische Erziehung des Menschengeschlechts“; das gilt auch – und in besonderem Maß – für kulturelle Breitenarbeit und soziokulturelle Aktivitäten, die sich damit deutlich von jeder sozialpolitisch begründeten Gemeinwesenarbeit absetzen (wobei natürlich Schnittstellen existieren).
In den letzten Jahren gibt es durchaus erfreuliche Ansätze für eine ästhetische Qualifizierung in den soziokulturellen Einrichtungen, deren Träger sich ihres ursprünglichen Auftrags besinnen, möglichst vielen Menschen einen Zugang zu Kunst und Kultur zu bieten und zugleich ihre kulturelle Ausdrucksfähigkeit zu stärken.
Damit wird die Unterscheidung zwischen Hochkultur und Soziokultur für kulturpolitisches Handeln zunehmend obsolet. Entscheidend wird demgegenüber vielmehr die Unterscheidung zwischen einer – auch gesellschaftspolitisch relevanten – ästhetischen Bildung auf der Grundlage künstlerischer Qualität in beiden Bereichen und einer ausschließlich oder überwiegend erlebnisorientierten Kulturindustrie, deren Förderung weder kulturpolitisch sinnvoll noch ökonomisch nötig ist.
Die kulturelle Entwicklung einer Gesellschaft hängt ferner entscheidend mit ab von ihrer Offenheit für Neues und Ungewohntes. Aufgabe staatlicher Kulturpolitik ist daher nicht nur die Sicherung bereits etablierter Kulturinteressen, sondern auch die Förderung neuer künstlerischer Ansätze auf allen Gebieten. In diesem Rahmen kommt es nicht zuletzt darauf an, die Verbindung zwischen intellektuellem Diskurs und sinnlichem Erleben, zwischen geistiger und
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emotionaler Bildung zu fördern.
Unter den beschriebenen Voraussetzungen – ästhetische Erziehung auf der Grundlage hoher künstlerischer Qualität – ist es dann wieder richtig, Kunst und Kultur als unverzichtbare Elemente im Rahmen von Stadtentwicklungsplanung anzusehen. Auf dieser Basis gehört es zu den Aufgaben staatlicher Kulturpolitik, in relevantem Umfang Gelder aus anderen Politikfeldern (Bau, Wirtschaft, Umwelt), aus der freien Wirtschaft und aus kulturell engagierten Vereinigungen für die Förderung künstlerischer Produktion einzuwerben.
Das heißt: Jenseits des ebenso falschen wie vielzitierten Gegensatzes zwischen Hochkultur und Soziokultur setzt die neue Kulturpolitik in beiden Bereichen auf die Abkehr von bloßen Beteiligungsritualen, auf die Hinwendung zu hohen qualitativen Ansprüchen an künstlerische und kulturelle Produktion und darauf, daß ästhetische Erziehung und die Ausbildung ästhetischer Urteilskraft der Humanisierung und Zivilisierung von Gesellschaft besser dienen als eine bloße Menge mittelmäßiger Angebote – unabhängig davon, ob es sich bei diesen Angeboten um Opernaufführungen, Folklore-Ensembles oder Töpferkurse handelt.
Kulturelle Identität und interkultureller Dialog
Eine innovative Kulturpolitik für das kommende Jahrzehnt muß sich zugleich als Anstoß für eine neue interkulturelle Orientierung definieren, die von der Gleichwertigkeit ungleicher kultureller Traditionen und Werte ausgeht. Zunehmend setzt sich die Überzeugung durch, daß im Rahmen der Internationalisierung und des damit verbundenen gesellschaftlichen Strukturwandels das bisher verbindliche Normengefüge durch eine Differenzethik abgelöst wird, die, ausgehend von der Unterschiedlichkeit ethischer Grundvorstellungen, Verbindlichkeit von Werten nur auf dem Wege bewußter – und komplizierter – Konsensbildung erlaubt. Die Beteiligung an solchen Diskursen erfordert ein hohes Maß an Unterscheidungsvermögen und Urteilskraft, zu deren Ausbildung – und vielleicht sogar Anwendung – Kunst und Kultur als ästhetische Erziehung weit mehr beitragen können, als gemeinhin angenommen wird.
Kulturpolitik hat daher die Begegnung mit fremden Kulturen und den interkulturellen Dialog zu organisieren und zu unterstützen, um die ästhetische Erfahrung kultureller Gemeinsamkeit und Differenz für ein friedliches und angstfreies Miteinander wirksam werden zu lassen. Die sichere Verankerung in der eigenen kulturellen Identität gehört zu den wichtigsten Voraussetzungen für das Gelingen dieses in multiethnischen und multireligiösen Gesellschaften unverzichtbaren Dialogs; erst das gelassene Bewußtsein der eigenen Identität macht die Anerkennung fremder Identitäten möglich.
Konsequenzen für die aktuelle Kulturpolitik
Neben den oben skizzierten grundsätzlichen Entscheidungskriterien gelten daneben auch Maßstäbe, die angesichts der Finanzmisere die nötige „neue Bescheidenheit“ setzt. Umverteilungen von den alten in die neuen Bundesländer, von der Arbeitsmarkt- in die Sozialpolitik und von der Kultur- in die Bildungspolitik setzen staatlicher Förderung von Kunst und Kultur enge Grenzen. Sorgfältig begründete Entscheidungen für oder gegen Projekte, Einrichtungen oder gar ganze Förderfelder sind in einer solchen Situation besonders wichtig.
Kulturpolitik der 90er Jahre muß daher vor allem
– die etablierten klassischen kulturellen Institutionen sanieren und umbauen;
– eine freie und soziokulturelle Szene, die die kulturelle Vielfalt und die Information über andere Kulturen gewährleistet, sichern;
– trotz der durch Haushalt und Sanierungsprogramme vorgegebenen finanziellen Rahmenbedingungen neue künstlerische Ansätze und den Dialog der Kulturen fördern.
Alle Bundesländer und Kommunen erklären inzwischen öffentlich, daß sie die großen etablierten Kultureinrichtungen – Theater, Museen und Orchester – nicht mehr im bisherigen Umfang finanzieren können. Verlangt werden für alle Institutionen Strukturveränderungen, die deren Eigenverantwortlichkeit stärken, den Einsatz staatlicher Zuschüsse optimieren und die Einrichtungen in die Lage versetzen, auf den „Wertewandel“ in der Gesellschaft angemessen zu reagieren. Die bislang nur in Ansätzen erörterten Strukturreformen sind mithin keineswegs allein finanzpolitisch notwendig; sie sind vielmehr aus inhaltlichen Gründen dringend geboten. In den Einrichtungen selbst wächst die Bereitschaft, Veränderungen mitzutragen und zu initiieren, um die kommenden „dürren Jahre“ zu überstehen und zugleich die eigene Arbeit veränderten gesellschaftlichen Rahmenbedingungen anzupassen. Nötig ist daher einerseits eine dezentrale Ressourcenverwaltung, die den Häusern erlaubt, über ihren Gesamtetat – einschließlich der Personalmittel – frei zu verfügen und Einnahmen aus Sondervorhaben zu behalten. Andererseits sind die diversen privat organisierten Freundeskreise der Museen, Theater usw. stärker in die Arbeit der Häuser einzubeziehen.
Vom noch nicht abgeschlossenen Zusammenbruch des zweiten Arbeitsmarktes sind die freien kulturellen und soziokulturellen Einrichtungen besonders hart getroffen worden, und von einer Grundsicherung durch die Kulturtöpfe dieser Einrichtungen kann keine Rede sein. Neuere Analysen haben jedoch gezeigt, daß in der soziokulturellen Szene und in der Stadtteil-Kulturarbeit in den letzten Jahren eine Polarisierung stattgefunden hat; mittlerweile können stärker an der Gemeinwesenarbeit orientierte Projekte von solchen unterschieden werden, die sich primär im künstlerischen und kulturellen Bereich im engeren Sinne engagieren. Für die ersteren muß eine verbindlichere Kooperation mit anderen Trägern vor Ort (Kirchen, Wohlfahrtsverbände, Ressort für Soziales) angestrebt werden, um diese auch finanziell stärker an der Arbeit der Projekte zu beteiligen. Besondere Förderung verdienen daneben interkulturelle und soziokulturelle Aktivitäten, insbesondere in Stadtteilen mit hohem Ausländeranteil. Auch innovative und experimentelle künstlerische Ansätze sollten in allen Sparten gleichermaßen gefördert werden. Für derartige Initiativen, die in der Regel hohe Maßstäbe an die Qualität ihrer Arbeit anlegen, sollte sich die Kulturpolitik besonders engagieren.
Die Attraktivität kommender Kulturlandschaften hängt letztlich einerseits von der Hochwertigkeit solcher innovativen Ansätze, andererseits von Schwerpunktveranstaltungen ab, die – jenseits der aktuellen Debatte über ästhetische Kategorien – bundesweit und international Aufsehen erregen können.
Vorrangig für diese beiden Schwerpunkte staatlicher Kulturpolitik müssen stärker als bisher auch finanzielle Mittel anderer Ressorts und kulturpolitisch interessierter gesellschaftlicher Gruppen eingeworben werden.
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