: Abschied vom ländlichen Paradies
Gegen ein geplantes Atomkraftwerk kämpft die Jugend auf dem Dorfe in „370m über NN“ von Jiří Hájíček
Von Katharina Granzin
Im Jahr 2000 wurde das Atomkraftwerk bei dem kleinen südböhmischen Ort Temelín in Betrieb genommen. Fünfzig Kilometer von der österreichischen und sechzig von der deutschen Grenze entfernt gelegen, ist es bis heute das größte AKW Tschechiens. Seiner Errichtung und Inbetriebnahme vorangegangen waren jahrelange, auch grenzüberschreitende Proteste. Die Planung des Kraftwerks war lange vor der „samtenen Revolution“ in der Tschechoslowakei begonnen worden, die Umsetzung trieben dann die demokratisch gewählten Regierungen der Nachwendezeit voran. Damit stets genügend Kühlwasser zur Verfügung steht, wurde die Moldau in der Nähe von Temelín zu einem See gestaut. Mehrere Dörfer mussten dem Gewässer weichen, weitere Siedlungen wurden abgerissen, weil sie zu nahe am Kernkraftwerk lagen.
Die Geschichte dieser Dörfer erzählt Jiří Hájíček in seinem Roman „370m über NN“, der im Original und in anderen fremdsprachigen Übersetzungen den Titel „Fischblut“ trägt. Beide Titelvarianten beziehen sich auf das Wasser der Moldau, in dem das Dorf der Ich-Erzählerin Hana zur Hälfte versinken soll, sobald die Flutung der Uferregionen beginnt. Häuser, die jenseits einer Marke von 370 Metern über dem Meeresspiegel liegen, dürfen stehenbleiben, alle anderen müssen geräumt werden. Dazu zählt auch das Haus von Hanas Eltern.
Hana selbst ist zu Beginn der achtziger Jahre, als die Pläne öffentlich werden, ein Teenager von sechzehn Jahren. Der Kampf gegen die Zwangsumsiedlungen fällt zusammen mit der prägendsten Phase in ihrem Leben. Es ist ein smarter Schachzug des Autors, die Erzählung über diese Übungen in bürgerlichem Ungehorsam mit einer Coming-of-Age-Geschichte zu verknüpfen. Authentizität ist verbürgt, denn 1967 geboren und in der Gegend um Temelín aufgewachsen, dürfte Hájíček viele eigene Erlebnisse eingebracht haben. Dorfdiscos, Alkoholexzesse, Freund- und Liebschaften prägen Hanas Dasein, und auch das ländliche Leben nah an der Natur genießt sie mit allen Sinnen.
Sie hat zwei beste Freundinnen im Ort, mit denen sie durch dick und dünn geht. Doch dann kommen Politik und Liebe dazwischen. Bei Aktionen gegen das geplante AKW lernt Hana Petr näher kennen, einen Jungen aus dem Nachbardorf, mit dem ihre Freundin Olina „geht“. Durch das gemeinsame Engagement und den nächsten Dorfschwof kommen Hana und Petr zusammen, und Hana hat eine Freundin weniger …
Jiří Hájíček: „370m über NN“. Aus dem Tschechischen von Kristina Kallert. Karl Rauch Verlag, Düsseldorf 2025, 352 Seiten, 26 Euro
All das und noch viel mehr wird in Rückblende erzählt, in eine Rahmenhandlung eingebettet, die zwanzig Jahre später spielt: Hana, die ehemals Ultrasesshafte, ist nach der Vertreibung aus ihrem dörflichen Paradies zur Weltreisenden geworden und all die Jahre nicht zurückgekehrt. Nun besucht sie, die schon lange im Ausland lebt, ihren alten Vater im Plattenbau und lässt nach und nach einstige Bekanntschaften wieder aufleben, was durchaus sehr verschieden verläuft.
Mit diesem Roman hatte Jiří Hájíček vermutlich einen wichtigen Nerv beziehungsweise ziemlich tief in die tschechische Seele getroffen, denn dem Leben auf dem Dorfe kommt in der tschechischen Kultur eine beinahe mythisch überhöhte Bedeutung zu. Die Vertreibung aus diesem verklärten Nationalidyll aus Sicht einer Vertreterin der jungen Generation zu schildern, und das auch noch vor dem zeitgeschichtlichen Hintergrund der grundlegenden politischen Umwälzungen im Land, verleiht dem Sujet eine zusätzliche symbolhafte Bedeutung – und das um so mehr, als von der „hohen“ Politik in diesem Dorfroman auffallend wenig die Rede ist. Einmal kommt ein Minister der neuen demokratischen Regierung vorbei, um mit Anti-AKW-Parolen Wählerstimmen zu gewinnen und später doch mit seiner Partei den Bau des Kraftwerks voranzutreiben.
Von dem sanften revolutionären Wind, der 1989 mit der „samtenen Revolution“ durch Prag weht, scheint hier auf dem Land ohnehin kaum etwas spürbar zu sein – jedenfalls nicht für Hana, die als Ich-Erzählerin alle Ereignisse gleichermaßen unaufgeregt referiert, vieles in Andeutungen belässt und sich weitreichender Kommentare enthält. Da bleibt beim Lesen viel Platz, sich ein eigenes inneres Erleben zu schaffen und sich seinen Teil über die Personen zu denken.
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