Abschied vom Tivoli: Champagner statt Schimmel
Zweitligist Alemannia Aachen zieht zur neuen Saison aus dem legendären Tivoli in eine moderne Sichtbetonschüssel.
AACHEN taz | Die Idee hatte Charme. Und lange hatte man bei Zweitligist Alemannia Aachen über den Fanvorschlag nachgedacht, im August ein kombiniertes Abschieds- und Eröffnungsspiel zu machen: Die erste Halbzeit auf dem alten Tivoli, dann pilgern Spieler wie Zuschauer zur zweiten Halbzeit in den Neubau nach nebenan, kaum mehr als einen kräftigen Torwartabschlag entfernt. Doch "die Super-Idee" sei aus Zeitgründen "leider definitiv vom Tisch", sagt Alemannias Projektmanager Stadionbau Stephan van der Kooi. "Organisatorisch ein Wahnsinn", ergänzt Geschäftsführer Fritjof Kraemer.
Der alte Tivoli: Seit 81 Jahren steht das Stadion von Alemannia Aachen im Ortsteil Soers. Zum Eröffnungsspiel am 3. Juni 1928 gegen Preußen Krefeld kamen 10.000 Zuschauer. In den 1950er-Jahren passten mehr als 30.000 Fans ins Stadion. Zuletzt hatte der Tivoli 21.300 Plätze. 17.600 davon waren Stehplätze. Nur 3.700 Sitzschalen waren montiert. Eine Besonderheit: Das Stadion hatte keine VIP-Logen.
Der neue Tivoli: Der Neubau liegt nur einige hundert Meter vom alten Stadion entfernt und fasst 32.900 Zuschauer. 11.681 Plätze sind Stehplätze, 10.584 allein in der Südkurve. Die neue Arena mit ihren 1.306 Business-Seats bietet den VIPs 2.338 Quadratmeter Platz zum Champagnertrinken. So groß wird die Business-Lounge.
So blieb es beim harten Cut. Beim Kulturschock. Beim Abschied, als am Sonntag das letzte Ligaspiel auf dem alten Tivoli von 1928 abgepfiffen wurde. Das leichte 4:0 gegen freundlich-passive Gäste aus Augsburg wurde ein tränenreiches und melancholisches Adieda, wie man in Aachen sagt, von einem heiß geliebten Stück Heimat. Nach 2.215 Spielen mit 1.299 Siegen gegen 251 Gegner unter 55 Trainern vor 12.271.511 Zuschauern, wie Alemannias Statistikfexe eifrig gezählt und per Bandeninformation kundgetan hatten.
Es war ein Abschied von bröckelndem Putz, von stinkenden Latrinen, von schiefen Stufen, Zäunen und Wänden, von notorisch sichtbehindernden Pfeifern, von Eternit-Dächern und rostenden Flutlichtmasten. Eine komfortfreie Spielstatt mit Zelten als VIP-Zone, ohne Logen, ohne Champagner. Für die winzigen Umkleidekabinen mit den betagten Holzbänken (Gästekabine: genau ein Klo) würde sich heute ein Kreisligist entschuldigen. In den Umkleiden hat sich, so Exkapitän Erik Meijer, "eine Mischung aus Schweiß, Rasen und Schimmel" eingebrannt.
Das Stadion, das mit Vornamen Mythos heißt, Legende oder Kultkasten, galt immer als Kessel, in dem es Hexen mit der Angst bekämen. Wilder Krach dominierte, die Stehhalle der Kuttenträger als Zentrum lauten Leidenschaftsgestrüpps. Historische Aufnahmen zeigen gern einen schlammigen Platz mit dreckverschmierten Akteuren und Zuschauerwänden unter Regenschirmen. War hier immer schlechtes Wetter? In der Vereinshymne von 1967 der "3 Atömchen", heißt es: "Regenschauer überm Tivoli / jeben für den Siesch die Jarantie".
Nach über 80 Jahren kann ein Stadion vieles erzählen. Etwa vom Oktober 1957, als über 35.000 Menschen den Oberliga-Sieg der Kartoffelkäfer gegen Schalke sahen. Sporthistorisch war die Versöhnung von Alemannias Uruguayer Horacio Troche und Uwe Seeler 1967 - den hatte der Uru bei der WM 66 noch geohrfeigt. Auch für die Geschichtsbücher: das erste zuschauerfreie Geisterspiel 2004. Und da waren all die Pokalsiege gegen Erstligisten - ob 1986 das Elfmeter-7:6 gegen Werder Bremen oder die Triumphe gegen Bayern München. Die Ruhmreichen haben die letzten drei Auftritte zwischen 2004 und 2007 auf dem Tivoli alle verloren.
Tivoli-Besuch war immer eine Zeitreise ins Gestern, in die eigene Kindheit mit dem Duft von Bratwurst, Urin, Lehm und Bier. Nirgends sonst kamen die Spieler aus einem 20 Meter langen, klaustrophobisch engen Tunnel "in dieses Bauwerk" (Trainer Jürgen Seeberger). Die dichten Baumreihen ringsum, selten geworden in deutschen Fußballstadien, gaben ein zusätzliches Schüsselgefühl. Alles so eng und unmittelbar, dass man in England darauf stolz wäre.
Wie anders der neue Tivoli nebenan: eine ausgeklügelt funktionale Arena wie so viele, gebaut von der Hellmich-Gruppe. "80 Reihen pure Emotion" verspricht der Architekt. Der Name Tivoli, also Vergnügungsstätte, bleibt ohne Sponsorenzusatz erhalten. Einrangig, eckig, praktisch. Und auch gut? Die Macher werben: "Eng, steil, laut, gelb."
Gelb sind Dächer und die Sitzschalen, die derzeit montiert werden. Lautstärke? Hängt von Fanverhalten und Akustik ab. Enge kann wegen gesetzlicher Vorgaben nie mehr eine Enge wie früher sein. Und wie steil die Ränge genau sind, ein Qualitätskriterium für stimmungsfördernde Kompaktheit, wurde bislang nirgends kommuniziert. Stephan van der Kooi sagt, man habe "das Baurecht zu hundert Prozent ausgereizt": 31 Grad seien es im Mittel, nach oben hin etwas mehr. Bitter: Das neue Gladbacher Stadion hat 32, Münchens Oberrang sogar 34 Grad, ähnlich wie Köln, aber da seien störende "Haltebügel vor jedem Sitz vorgeschrieben". Die EM-Stadien in Lüttich und Charleroi nebenan in Belgien sind noch deutlich steiler. Aber solch schwindelerregende Bauten sind in Deutschland nicht erlaubt.
Eine Arena aus Betonfertigteilen, noch ohne Seele. Jahrelang hatte Volkes Seele einen Neubau mit Argwohn, gar Abscheu begleitet. Irgendwann aber verfing die wirtschaftliche Drohung, der alte Tivoli stünde für "Nie mehr 1. Liga". Die Fans haben den Neubau mitfinanziert (Anleihen für 4,2 Millionen Euro) und ließen sich während der Rückrunde mitnehmen zum inszenierten Abschieds-Countdown. Als es noch acht Spiele waren, hielten alle schwarz-gelbe Schilder mit einer Acht in die Luft. Beim vorletzten Akt wurden 22.222 Luftballons mit einer Zwei drauf verteilt. Ein handgemaltes Plakat sekundierte: "Danke, Alte Hütte."
Der Abschied am Sonntag war schön kitschig, anrührend manchmal und kaum peinlich. Geliebte Haudegen aus dem Gestern liefen ein - darunter Kampfschwein Willi Landgraf, Pressschlagheroe Günter Delzepich, Rekordtorschütze Jupp Martinelli und der 30er-Jahre-Torwart Fritz Neußl (97). "You never walk alleng", öcherenglischte der Tivoli-Chor für sein Stadion. Und zum "Abschied von einem alten Freund" schmetterte eine Karnevalscombo ihre Version zu "Tränen lügen nicht", die in der christlichen Textzeile gipfelte: "Nicht weit von hier wirst du wieder auferstehen."
Nicht alles bleibt zurück. Vor den Baggern gerettet wird die alte, zuletzt immer defekte Stadionuhr; sie kommt als Reliquie ins neue Stadion, dazu ein paar betagte Wellenbrecher, die zu Stehtischen am Bierstand umgeschweißt werden. "So was", sagt Stadionmanager van der Kooi, "ist den Fans ganz wichtig." Auch der wohltuend sachliche Stadionsprecher Robert Moonen, 63, zieht in seinem 36. Dienstjahr um - und mit seiner Stimme die wehmütige Erinnerung an des Fußballs raue Echtheit, bevor er zum Event wurde.
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