: Abschied vom Aldi-Prinzip
Der Kirchenkreis Alt-Hamburg versucht, seine schwindenden Gemeinden mit einer Zukunftsstudie auf die anstehende Schließung von Gotteshäusern vorzubereiten
von GERNOT KNÖDLER
Der demographische und ökonomische Umbruch in Deutschland macht auch vor der Kirche nicht halt. Weniger Steuern, mehr Alte, desinteressierte Junge und eine schwindende Bedeutung des Christentums im kollektiven Bewusstsein – das leert Kirchen und Kassen. Um einer Katastrophe zu entgehen, muss die Kirche sparen und zwar schnell. Binnen drei Jahren, sagt Propst Karl-Günter Petters, Vorsitzender des Krichenkreisvorstands Alt-Hamburg, sollen die Gemeinden über Fusionen und die Aufgabe von Kirchengebäuden entscheiden. Das Arbeitsbuch „Kirche morgen“, das gestern vorgestellt wurde, soll eine rationale Grundlage für die anstehenden Debatten liefern und bei den Gemeinden die Einsicht ins Notwendige fördern.
Der Evangelisch-Lutherische Kirchenkreis leidet heute daran, dass im 20. Jahrhundert in Verkennung der demographischen Entwicklung sehr viele Kirchen gebaut wurden, welche die kleiner werdende Schar evangelischer Christen längst nicht mehr füllen und unterhalten kann. Zuwanderer gleichen das nicht aus: Sie sind höchst selten evangelisch.
Dazu kommt, dass vielen Kirchen durch die wirtschaftliche Entwicklung (City) oder den Krieg (Hamm-Süd) die Gemeinden abhanden gekommen sind. „Die Kirche muss sich auf die wichtigsten Gebäude konzentrieren“, fordert deshalb Petters. Für die anderen gelte es, kirchennahe Nachnutzer zu finden. Der Abriss der Kapernaum-Kirche in Horn solle eine Ausnahme bleiben.
Gleichzeitig differenziert sich die städtische Bevölkerung immer stärker aus: Leben in den Vier- und Marschlanden viele Familien mit Kindern, dominieren in innerstädtischen Bezirken Single-Haushalte. Es gibt Viertel, in denen sich Alten-Wohnanlagen konzentrieren, andere, in denen Armut das vorherrschende Problem ist, und wieder andere, wo das evangelische Christentum nicht wesentlich verbreiteter ist als der Islam. „Die Kirche muss Abschied nehmen vom Aldi-Prinzip: Kirche überall mit dem gleichen Angebot“, schlussfolgert Wolfgang Grünberg, Leiter der Arbeitsstelle Kirche und Stadt an der Uni Hamburg.
Petters und Grünberg wollen ihre Thesen nicht als Spar- und Schrumpf-Programm verstanden wissen. Ziel des Arbeitsbuches sei es, auf die Vielfalt der Faktoren hinzuweisen, die es bei der Strukturreform zu berücksichtigen gilt. Mag die eine Gemeinde ihr Gotteshaus halten können, weil sie sich durch Anpassung an die Bedürfnisse des Stadtteils revitalisiert, kann sich eine andere mit der Nachbargemeinde zusammenschließen und ihr Gebäude an griechisch-orthodoxe Zuwanderer abgeben, wie die Simeon-Kirche in Hamm. Eine dritte mag ihre Kirche behalten, weil diese als Denkmal bedeutend ist und eine vierte, weil ihr Gotteshaus die letzte symbolische Klammer ist, die einen brüchigen Stadtteil zusammenhält. Solche „Stadtsymbole“ und „emotionale Herbergen“ (Grünberg) aufzugeben, wäre für die Kirche tödlich.
Das Arbeitsbuch „Kirche morgen“ von Annegret Reitz-Dinse und Wolfgang Grünberg sowie Dirk Schubert und seinen Mitarbeitern von der TU Harburg beginnt mit einem theologisch- und stadtgeographisch-analytischen Teil, um sich dann in einer Fallstudie der Gemeinde Hamm zuzuwenden. Im Anhang finden sich Leitlinien und Fragebögen, mit denen jede Gemeinde die Ergebnisse für sich nutzen kann.