Abschiebung: "Es fehlte am guten Willen"
Die Dokumentation "Wadim" porträtiert einen jungen Mann, der in Hamburg aufwuchs, abgeschoben wurde - und sich vor den Zug warf. Ein Gespräch mit Wadims Betreuer anlässlich der Premiere.
taz: Herr Mazurkiewicz, in dem Dokumentarfilm "Wadim" über den Tod eines jungen Mannes, der in Deutschland aufwuchs, aber nach Lettland abgeschoben wurde, sind auch Sie zu sehen. Warum?
Mieczyslaw Mazurkiewicz: Ich kann den Tod von Wadim K. nicht akzeptieren. Der Mensch ist das Wertvollste, was wir haben, in Deutschland, in Lettland, überall. Das Beispiel von Wadim K. zeigt, wie man damit nicht umgeht, und deshalb habe ich dem Interview zugestimmt.
Besonders auffällig in dem Film ist, dass sich die Sozialarbeiter, Lehrer, Arbeitgeber alle an Wadim erinnern.
Wadim hatte eine sehr positive Ausstrahlung. Er hatte Lebenskraft, strotzte vor Energie, war jung und probierte sich aus. Er befand sich in diesem Zeitraum, den man nie vergisst und er erinnerte mich an meine eigenen Kinder. Nur hat man ihm diese schönsten Jahre, diese Jahre der Unbekümmertheit einfach weggenommen. Man hat sie ihm geklaut. Wenn ich das Schicksal von Wadim mit dem meiner Kinder vergleiche, dann sehe ich eine gewaltige Diskrepanz. Wadim hatte aufgrund seines Aufenthaltsstatus nicht die gleiche Chance, man hat ihn zu einem Menschen zweiter Klasse gemacht.
2005 hat die Hamburger Ausländerbehörde Wadim als einzigen seiner Familie nach Lettland abgeschoben - seine kranken Eltern und sein minderjähriger Bruder blieben. Ist das der Grund, dass er sich fünf Jahre später in Hamburg vor die S-Bahn geworfen hat?
Man kann sehr leicht menschliches Leben vernichten. Wadim war ein wertvoller Mensch, der leben, der arbeiten und seine kranken Eltern unterstützen wollte. Das hat man ihm verweigert. Wann immer er illegal in Hamburg war, hat er gesehen, was seine Eltern haben, was sein Bruder hat und was er hatte - nicht mehr als einen kleinen Rucksack. Sein Bruder durfte letztlich studieren, während er ohne Perspektive als Hilfsarbeiter in Riga arbeiten musste.
Warum wurde Wadim überhaupt abgeschoben? Der Bescheid war zehn Jahre alt!
Es fehlte am guten Willen. Die Hamburger Behörden waren nicht verpflichtet, den Bescheid des Bundesamtes von 1995 auszuführen. Sie haben es aber getan, obwohl die Familie sich da längst eingelebt und eine neue Heimat gefunden hatte. Es ist doch bezeichnend, dass die Eltern 2007 letztlich eine Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen erhalten haben.
59, Rechtsanwalt, ist als Sohn eines polnischen Vaters und einer deutschen Mutter in Danzig aufgewachsen und gehört zur ersten Generation der Solidarnosc. Der Menschenrechtler lebt seit 24 Jahren in Deutschland, seit zwölf Jahren ist er gesetzlicher Betreuer von Menschen mit Migrationshintergrund. Dabei übernimmt er als Jurist auch deren rechtliche Vertretung. Die Familie von Wadim hat er elf Jahre lang betreut.
Warum nicht früher?
Diese Frage können nur die zuständigen Behörden beantworten.
Sie haben die Familie im Film als eine Familie von Opfern bezeichnet. Opfer von wem?
Von inhumanen Entscheidungsträgern. Die haben, obwohl es juristische Anträge gab, den Fall neu zu prüfen, entschieden, die Abschiebung zu vollstrecken. Zu einem Zeitpunkt, als Wadim noch vier Monate zur Beendigung seiner Lehre fehlten.
Wadim war sechs Jahre alt, als die Familie nach Hamburg kam. Warum hat man einem 18-jährigen nicht wenigstens die Chance gegeben, die Lehre zu beenden?
Das war eine dumme, unmenschliche Entscheidung, die zur Folge hatte, dass er beruflich in Lettland keine Chance hatte. Mit einer abgeschlossenen Lehre wäre das eventuell anders gewesen. Der Abschluss hätte vielleicht anerkannt werden können. Theoretisch gab es aber auch eine zweite Option - die der Rückkehr nach Hamburg. Wadim hätte hier seine Ausbildung beenden können, denn die Schule hätte ihn erneut aufgenommen. Doch die Verantwortlichen in der Behörde waren nicht bereit, die Abschiebeentscheidung rückgängig zu machen und das Einreiseverbot aufzuheben. Das wäre durchaus möglich gewesen.
Wadim hatte also weder hier noch in Lettland eine Chance - dank der Hamburger Behörden?
Hier sollte er obendrein noch die Abschiebekosten von 4.200 Euro zurückerstatten. In Lettland hatte er als Mensch mit russischen Wurzeln, aber ohne irgendwelche Papiere, keine Chance auf dem Arbeitsmarkt. Man darf Russen einfach nicht zu Letten schicken, denn dort gelten sie aufgrund der Geschichte als Besatzer. Wadim landete zwischen allen Stühlen. Er war de facto staatenlos, de jure hat man ihm und seiner Familie allerdings diesen Status nicht zugebilligt.
Dank dem Abkommen vom 1998.
Ja, in diesem unmoralischen Abkommen steckt das ganze Übel. Warum hat sich ein kleines Land wie Lettland 1998 bereit erklärt, alle ehemaligen Bürger der Sowjetunion aus Deutschland aufzunehmen? Aus Liebe zu diesen Menschen? Lettland hat sich in diesem Abkommen zu nichts verpflichtet, nur zur Übernahme. Das heißt, das Ziel war, dass diese Menschen weiterfahren - nach Armenien, nach Aserbaidschan, in die Ukraine oder sonst wohin. In Lettland hatten die Menschen nichts zu erwarten, und dafür ist Wadim auch ein Beispiel.
Heute können einige Jugendliche, die mit einer Duldung in Hamburg leben, ihre Ausbildung machen - dafür hat die Handelskammer angesichts sinkender Azubi- Zahlen gesorgt.
Hätte man Wadim eine solche Chance gegeben, hätte er sicherlich einen Job, vielleicht ein Kind. Vielleicht würde er wie sein jüngerer Bruder studieren. Er würde dieser Gesellschaft etwas zurückgeben. Diese Familie wollte sich hier integrieren, sie wollten arbeiten, und ich werde den Selbstmord von Wadim nie akzeptieren - er war sinnlos.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Utøya-Attentäter vor Gericht
Breivik beantragt Entlassung
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?
Böllerverbot für Mensch und Tier
Verbände gegen KrachZischBumm
Pistorius lässt Scholz den Vortritt
Der beschädigte Kandidat
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
Scholz bezeichnet russischen Raketeneinsatz als „furchtbare Eskalation“