Abkommen zwischen Israel und Hamas: Letzte Ausfahrt vor der Hölle
Das Abkommen zwischen Israel und Hamas hat bislang gehalten – trotz gegenseitiger Vorwürfe des Bruchs. Nun könnte es zerbrechen
![Während einer Großdemonstration hält eine Frau ein Bild eines jungen Mannes in die Höhe Während einer Großdemonstration hält eine Frau ein Bild eines jungen Mannes in die Höhe](https://taz.de/picture/7524590/14/37652568-1.jpeg)
Knapp drei Wochen vor Beginn der zweiten Phase droht die fragile Waffenruhe im Gazastreifen zu zerbrechen. Nach einer mehrstündigen Sitzung des israelischen Sicherheitskabinetts ließ Regierungschef Benjamin Netanjahu am Dienstagabend eine Mitteilung veröffentlichen, in der er der Hamas mit einer Fortsetzung des Gazakriegs drohte. Die IDF werde die Kämpfe „bis zur endgültigen Niederlage der Hamas“ wieder aufnehmen, wenn die Hamas die Geiseln nicht bis Samstagnachmittag zurückgebe.
Zuvor hatte die Hamas gedroht, die Freilassung weiterer Geiseln auszusetzen, und mutmaßliche Verstöße Israels gegen die Waffenruhe angeführt. Israels Verteidigungsminister Israel Katz hatte die Armee in Alarmbereitschaft versetzt und angeordnet, sich „auf jedes Szenario in Gaza“ vorzubereiten.
US-Präsident Donald Trump setzte der Hamas bereits am Montagabend ein Ultimatum, das es in sich hatte: Wenn nicht alle Geiseln bis kommenden Samstag um 12 Uhr freigelassen würden, würde die Waffenruhe beendet werden und „die Hölle losbrechen“.
Die Maximalforderung Trumps mag eine harte Verhandlungsführung sein, doch der Einsatz ist enorm: Zerbricht die seit Mitte Januar gültige Waffenruhe, droht eine Fortsetzung des Krieges und damit des Leids im Gazastreifen. Diesmal aber unter den Vorzeichen einer Vertreibung der zwei Millionen palästinensischen Bewohner, wie es Trump und die israelische Führung seit Tagen vorschlagen.
Die Hamas ruderte noch am Montagabend zurück und versicherte auf Telegram, die Türe für eine Freilassung am Samstag „bleibt offen“. Man habe den Vermittlern Zeit gegeben, Israel „zur Erfüllung seiner Verpflichtungen zu drängen“. Doch was werfen sich Israel und die Hamas überhaupt vor? Und wieso setzen beide Seiten die Waffenruhe gerade jetzt aufs Spiel?
Vorwürfe von beiden Seiten
Laut Hamas soll Israel die Rückkehr der Palästinenser in den Norden verzögert, weiterhin Menschen aus der Luft und durch Scharfschützen getötet und die Lieferung von Hilfsgütern in den Küstenstreifen verzögert haben. Israel hingegen wirft der Organisation vor, mehrfach Listen von Geiseln nicht rechtzeitig übermittelt zu haben und deren Freilassung für Propaganda-Inszenierungen zu missbrauchen. Zudem hat der schlechte Gesundheitszustand der am vergangenen Samstag freigelassenen drei männlichen Geiseln viele in Israel schockiert.
Trotzdem hielt die Waffenruhe. So verzögerte die israelische Armee Ende Januar ihren Rückzug aus dem Netzarim-Korridor zwar, nachdem die Hamas entgegen der Vereinbarung die Zivilistin Arbel Yehud zurückgehalten und mit der Freilassung von Soldatinnen begonnen hatte. Doch 48 Stunden später zog sie sich zurück. Seitdem sind laut Angaben des UN-Nothilfebüros OCHA mehr als eine halbe Million Menschen in den Norden Gazas zurückgekehrt.
Auch die Hilfslieferungen in den Küstenstreifen sind in den Wochen seit dem Inkrafttreten der Waffenruhe massiv gestiegen. Laut OCHA sinken die Preise für Nahrungsmittel merklich, liegen aber noch immer deutlich über Vorkriegsniveau. UN-Nothilfekoordinator Tom Fletcher gab am Sonntag Teilentwarnung: Die Gefahr einer Hungersnot sei gesunken, könne aber bei weiteren Kämpfen schnell zurückkehren.
Mehrfach hat die Hamas die israelische Armee beschuldigt, trotz der Waffenruhe Menschen getötet zu haben. Die Vereinten Nationen meldeten in den vergangenen Wochen wiederholt erschossene Zivilisten. Die israelische Armee sprach in Stellungnahmen von „Warnschüssen“ oder „Schüssen zur Beseitigung von Bedrohungen“ auf Menschen, die sich Soldaten genähert hätten.
Hamas ist noch da
In Israel haben die Inszenierungen der Freilassung und zuletzt der Zustand der Geiseln für Empörung gesorgt. Teils wurden die Entführten in chaotischen Szenen durch Menschenansammlungen in Gaza geführt. Teils mussten sie sich in Propagandashows bei ihren Entführern bedanken. Die Präsenz der Hamas-Kämpfer in den Straßen ist für viele Israelis zudem ein Beweis, dass die Gruppe weiterhin eine Bedrohung darstellt.
Bisher kamen 21 Geiseln frei, ebenso 566 palästinensische Gefangene. In Israel sind laut Umfragen rund 70 Prozent für eine Fortsetzung des Deals. Die Hamas verkauft das Abkommen ihrerseits als Sieg. Nun aber könnte die Vereinbarung zusammenbrechen. In israelischen Medien äußern Kommentatoren die Befürchtung, die Hamas halte die nächsten Geiseln zurück, weil sie in noch schlimmerem Zustand sein könnten als die drei Männer am Wochenende.
Andererseits zögerte die israelische Regierung bereits zuvor mit der Fortsetzung der Gespräche zum vereinbarten Termin vergangene Woche: Bisher wurde lediglich eine Delegation ohne ein Mandat für Verhandlungen nach Doha entsandt. Die Hamas besteht auf einem endgültigen Ende der Kämpfe in der zweiten Phase. Netanjahu und mehrere seiner Minister lehnen das ab.
Hazem Qasem, Hamas-Sprecher
Für die israelische Koalition, in der sich viele offen für eine Besetzung des Gazastreifens aussprechen, dürfte die vergangene Woche ohnehin die Vorzeichen verändert haben. Denn Trump beharrt trotz weltweiter Kritik auf dem Plan, die Bevölkerung des Gazastreifens ohne ein Recht auf Rückkehr zu vertreiben. Netanjahu begrüßte dieses Vorhaben am Montag vor dem israelischen Parlament und sprach von einer „revolutionären Vision“. In einem Interview mit dem US-Sender Fox News hatte er zuvor gesagt. „Wir werden diesen Job erledigen.“
Keine Zurück
Für die Hamasführung dürfte sich damit die Frage stellen: Wozu noch Gespräche über eine zweite Phase führen? Laut Netanjahu soll nach der ethnischen Säuberung des Gazastreifens eine Rückkehr „deradikalisierter“ Palästinenser erlaubt sein. In Gaza dürfte dem niemand Glauben schenken: Die Mehrheit der Menschen dort sind Nachkommen von 1948 aus dem heutigen Israel Vertriebenen. Trump schloss eine Rückkehr zudem ganz aus.
Der Hamas-Sprecher Hazem Qasem sagte dem saudi-arabischen TV-Sender al Hadath: „Wir sind offen für Ideen für eine neue palästinensische Regierungsform in Gaza, nicht aber für Deportationen.“
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