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Abitur Die CDU verdankt ihren Wahlsieg auch dem Versprechen, das Turboabitur abzuschaffen. In Bargteheide kann man wie unterm Brennglas besichtigen, was das bewirkt: Eltern sorgen sich wegen der Konkurrenz der Schulformen, Lehrer wollen nicht schon wieder von vorn anfangenIn der Schule läuft’s

Aus Bargteheide David Joram

Bargteheide, das ist zwar Schleswig-Holstein, aber eben auch Hamburger Speckgürtel. Was schnell auffällt: Den Bargteheidern mangelt es nicht an Speck. Das 16.000-Einwohner-Städtchen ist fein herausgeputzt, es hat alles, was eine Kleinstadt haben muss: gepflegte Vorgärten, übersichtliche Tante-Emma-Läden, zwei Banken, einen Italiener, der vorzüglich Doraden brät – und eine direkte Bahnverbindung nach Hamburg.

Von Gleis 1 rollt ein Regionalexpress ratzfatz dorthin – und auf dem zweiten Gleis kommen stets viele Menschen von dort an; hauptsächlich SchülerInnen, die ins wenige hundert Meter nahe Schulzentrum schlendern. Drei Schulen gehen dort ineinander über, an allen drei kann man Abitur machen: Die Dietrich-Bonhoeffer- und Anne-Frank-Schule sind Gemeinschaftsschulen und bieten das Abitur nach neun Jahren an, am Kopernikus-Gymnasium sind es nur acht.

Geht es nach dem Wahlsieger CDU, wird das achtjährige Gymnasium bald abgeschafft. Die Meinungen darüber, ob das sinnvoll ist oder nicht, gehen im Bargteheider Schulzen­trum auseinander. Fest steht nur: Fällt das wichtigste Unterscheidungsmerkmal zwischen Gemeinschaftsschulen und Gymnasium weg, wird das den Konkurrenzkampf der Schulen um die besten Köpfe weiter anheizen.

Im Sekretariat der Dietrich-Bonhoeffer-Schule steht Lucas Pohl, beige Hose, weinroter Kapuzenpulli, schwarzer Rucksack. Der 19-Jährige ist einer von rund 1.000 Lernenden und besucht die zwölfte Klasse. Weil er nach der zehnten Klasse einen zehnmonatigen USA-Aufenthalt eingelegt hat, wird er erst in einem Jahr sein Abitur machen. Lucas Pohl sagt geradeaus das, was er denkt, unbeschwert und offen. „Ich wollte eigentlich unter keinen Umständen auf die Dietrich-Bonhoeffer-Schule. Beworben habe ich mich auf der Anne-Frank-Schule, wurde dort aber abgelehnt, weil die damals schon zu voll war“, sagt er.

Auch für die meisten Eltern ist die Bonhoeffer-Schule nicht die erste Wahl. Klar, sagen die meisten, grundsätzlich sei das schon eine gute Schule mit einem nachhaltigen Konzept. Aber die Anne-Frank-Schule finde man eben etwas besser. Auch das Kopernikus steht – trotz des Turboabiturs – etwas höher in der Elterngunst. „Viele Eltern denken: Wenn mein Kind aufs Gymnasium geht, erhält es eine bessere Bildung“, vermutet Lucas Pohl. „Das ist aber falsch. Auch an unserer Schule werden nur Gymnasiallehrer eingestellt. Qualitativ gibt es da keine Differenz.“

Als für ihn die Frage nach dem weiteren Schulweg anstand, kam das Kopernikus-Gymnasium nicht infrage. „Damals gab es noch Empfehlungen in den Grundschulen. Ich zählte zu den sogenannten lernschwachen Schülern und erhielt eine Empfehlung für die Realschule.“ Dass er sein Abi machen würde, sei damals nicht vorstellbar gewesen. Mittlerweile ist der intelligente junge Mann zu einem guten Beispiel dafür herangereift, zu was nachhaltiges Lernen ohne Druck führen kann – und er findet seine Schule „total klasse“. Er würde immer zur Gemeinschaftsschule raten – unabhängig davon, ob im Kopernikus-Gymnasium G8 oder auch G9 angeboten wird.

„Die beiden bestehenden Gymnasien in Bargteheide sind Einrichtungen, in denen knallhart aussortiert wird“, sagt Olaf Timmermann, Vorstandsmitglied im Bonhoeffer-Elternbeirat. „Dass deren Stil sich mit G9 ändern würde, glaube ich nicht.“ Timmermann meint neben dem Kopernikus auch das Gymnasium Eckhorst, das nur einen Kilometer vom Schulzentrum entfernt liegt. Das Eckhorst bietet ebenfalls G8 an.

Käme G9 flächendeckend in ganz Schleswig-Holstein, würden im kleinen Bargteheide gleich vier Schulen dieselbe Abi-Laufzeit anbieten. Timmermann befürchtet dadurch Nachteile für die Gemeinschaftsschule, die im Juli einen Neubau mit acht Klassenräumen extra für die Oberstufe bekommt. „Wir finden G9 prinzipiell gut“, sagt er, „und haben unsere Kinder vor allem deshalb auf die Bonhoeffer-Schule geschickt.“ Inzwischen diskutiere man im Vorstand des Elternbeirats schon die Frage, was passiert, wenn G9 an allen Schulen kommt. „Ob das existenziell bedrohend für uns wäre, weiß ich nicht“, fährt Timmermann fort. „Wir machen uns auf jeden Fall Gedanken und hoffen auf eine kluge Entscheidung der neuen Landesregierung.“

Hinter den schulfarbenblauen Türen kommen direkt die roten des Kopernikus-Gymnasiums, 845 SchülerInnen stark. Rund 100 melden sich pro Jahr neu an. Drinnen diskutieren im Kopierraum zwei Lehrkräfte die Systemfrage. „Wir haben uns an G8 gewöhnt, sehen aber nach wie vor ein Zeitproblem“, sagt die ältere Kollegin. „Andererseits haben wir den Prozess gerade hinter uns. Jetzt soll alles wieder umgeschmissen werden?“

Den Konkurrenzkampf mit den Gemeinschaftsschulen fürchten sie hier nicht, wechselnde Lehrpläne, weitere Einarbeitungszeiten in wieder neue Prozesse dagegen schon. „Und die goldene Lösung wird G9 auch nicht sein“, sagt die Ältere, bevor sie ihre Kopien einsammelt. „So, hab Unterricht“, ruft sie und verschwindet.

In der zweiten Gemeinschaftsschule lächeln mehrere Anne Franks aus Bilderrahmen. In den Gängen wuselt und lärmt es, Kinder ziehen quietschfidel vorüber, manche halten Händchen, andere versuchen Klotüren möglichst krachend zuzuschlagen. Die Anführerin einer Mädchendreierclique sagt kichernd: „So Leute, ich hab Kopfschmerzen.“ Vor dem Sekretariat hängen Auszeichnungen: Schule des Jahres, Zukunftsschule, digitale Modellschule, Landessieger starke Schule, und, und, und. Die Liste ist lang – der Ärger aber auch hier groß.

Eine Lehrerin regt sich so sehr über die Zustände auf, dass sie am Ende des Gesprächs ihren Namen dann doch lieber nicht in der Zeitung lesen will. ­„Schreiben Sie: eine Kollegin mit über 30 Jahren Berufserfahrung.“ Als solche habe sie mittlerweile schon vier oder fünf größere Reformen erlebt. Man solle die Umstrukturierung bleiben lassen, es komme vor allem auf die Unterrichtsqualität an. Aber da werde überall gekürzt, Arbeit verdichtet, höhere Qualifikationen und Zusatzausbildungen nicht gewürdigt

„Wir Lehrerinnen müssen Möglichkeiten haben, Konflikte zu lösen“, redet sie sich in Rage. „Wir brauchen mehr Ressourcen für Inklusion.“ In einer Klasse mit 27 Schülern reiche das Spektrum von hoch begabt bis zu emotionalem Förderbedarf. „Sieben bis acht Kinder haben da immer eine spezielle Situation.“ Diese Sachverhalte müsse man angehen, G8 oder G9 sei zweitrangig, eine Strukturdebatte unnötig.

Eine Meinung hat sie dazu trotzdem: „Die Kinder, die in den Gymnasien mit G8 jetzt gut zurechtkommen, langweilen sich dann bei G9. Möglicherweise muss man dann wieder mit ‚Überspringen‘ arbeiten.“ Sorge, dass das Kopernikus-Gymnasium mit G9 künftig besser angenommen werden könnte, hat sie nicht. „Ach, die Kinder, die in Klasse vier etwas langsamer unterwegs sind, werden auch weiterhin auf Gemeinschaftsschulen gehen.“

Draußen auf dem Parkplatz des Schulzentrums herrscht Stille. An einem Laternenpfahl hängt noch ein Wahlplakat der Grünen. Klein geschrieben steht dort: „Für starke Bildung“. Und darüber, deutlich größer: „Mit klarem Kurs“.

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