: Abgelagerte Erinnerungen
Tänzerische Reflexionen zur Zukunft des eventuell manipulierten Körpers: Angela Guerreiros Project Y auf Kampnagel ■ Von Irmela Kästner
Der Mensch strebt nach Perfektion und trachtet danach, sein eigener Schöpfer zu sein. Den Idealbildern von Form und Funktion von Körper und Geist sind keine Grenzen gesetzt. Das war schon immer so. Doch angesichts der Entwicklungen in der Wissenschaft, der Meldungen über Entdeckungen und Möglichkeiten, die sich tagtäglich überschlagen, nimmt das Fortschrittsstreben nicht selten groteske Züge an. Womöglich ist der Mensch, wie wir ihn kennen, dieses Wesen in einem sterblichen Körper aus Fleisch und Blut, bereits ein Auslaufmodell. Der Glaube an die Wissenschaft steht heute hoch im Kurs. Den Einflüssen seitens der Gen- und Computertechnologie kann sich kaum jemand entziehen. Und diese greifen tief in die Wahrnehmung von uns selbst und damit von unserem Körper ein. Ein Thema also, das den Tanz und dessen Bild vom Körper unmittelbar berührt. Die Hamburger Choreografin Angela Guerreiro suchte hier den Ausgangspunkt für ihren neuerlichen künstlerischen Laborversuch Project Y, der am 7. März auf Kampnagel Premiere hat.
„Zwei konträre Thesen“, erläutert Guerreiro, „regten mich zu dieser Arbeit an: Die eine besagt, dass der Mensch irgendwann in einen anorganischen Zustand übergeht, also mehr und mehr zu einer Maschine wird, die sich selbst erhält und repariert. Andere dagegen bestreiten, dass es jemals möglich sein wird, den Mensch durch eine Maschine zu ersetzen, zumindest nicht in der Komplexität, in der unsere Sinnesorgane miteinander verknüpft sind.“ Eine Komplexität, die Guerreiro auch stets in ihrem Tanz widerzuspiegeln versucht. Tausende von Fragen, bestätigt sie, habe sie sich und ihren Tänzern, Joséphine Evrard, Sasa Queliz, Miguel Pereira, bezüglich der möglichen Zukunft des Körpers gestellt. „Vorstellungen von Perfektion und Schönheit waren da Thema und immer wieder die Angst, dass etwas schief geht und außer Kontrolle gerät.“ The Beauty and the Biest, Lara Croft und das Frankensteinmonster – Visionen und Ängste der Menschen haben sich über die Zeit nicht wesentlich verändert. So wechselt der Blick in die Zukunft auch dann und wann seine Richtung zurück auf die Mythen der Vergangenheit. Das Ikarus-Thema, erzählt die Choreografin, der Traum vom Fliegen und damit die Sehnsucht, den Göttern nah zu sein, sei ein wiederkehrendes Motiv gewesen. „Vielleicht“, gibt Guerreiro zu verstehen, „ist das eine der Aussagen, die wir in Project Y machen werden: Alles wiederholt sich. Die Menschheit kreist gefangen im Rad ihrer Geschichte.“
Ansonsten will sie hier weder eindeutige Antworten geben, noch die wissenschaftliche Forschung im Tanz nachgestalten. Es geht um eine künstlerische Recherche zu der Frage: Wie beeinflussen uns die neuen Technologien? Das Buch „Cyberspace von Marc Dery war hier Grundlage für den kreativen Prozess. Angela Guerreiro sucht die Diskussion mit kunstfremden Ansätzen und Fragestellungen. „Mein Tanz“, sagt die gebürtige Portugiesin, die seit 1994 in Hamburg lebt und arbeitet, „hat schon lange nichts mehr damit zu tun, Schritte aneinanderzureihen.“
Entlang der Strukturen des Körpers, der Ablagerungen von Erinnerung entwickelt sie Motive für eine Choreografie. Sie macht es sich nicht leicht und sucht immer wieder neu einen unverstellten Blick. Dazu setzt sie auch in diesem Stück die Improvisation live auf der Bühne ein. Project Y ist der zweite Teil einer Trilogie, die sich mit der Körper-Geist-Thematik auseinandersetzt. In Project X, das im letzten Sommer auf Kampnagel Premiere hatte, ging es um die Verknüpfung von Geist und Gefühl mit den Funktionen des Organismus. Damals stand der Neurologe Antonio R. Damasio mit seinem Buch Descartes Irrtum – Fühlen, Denken und das menschliche Gehirn Pate. Der letzte Teil, Project Z, wird sich mit dem Tod auseinandersetzen.
Guerreiro sieht diese Arbeiten in erster Linie als Experimente. Das heißt für sie auch, das Risiko einzugehen, jedesmal mit neuer Besetzung zu arbeiten. Die Multivisionskünstler „dura lux“ werden speziell für Project Y einen Projektions- und Soundraum kreieren.
7. März 2001, 20.30 Uhr, Kampnagel k2, 9.-11., 15.-18. März
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen