Abenteuer Es gibt sie: die Orte, wo die Nacht Nacht ist. In Gülpe in Brandenburg soll es in Deutschland am dunkelsten sein. Eine Wanderung mit Sternen, Eulen und Wölfen: Wo die Nacht am tiefsten ist
von Steffi Unsleber
In der Großstadt gibt es die Nacht nicht mehr. Nur Dämmerung, ein Zwischenzustand – gedimmt, aber nicht dunkel, gedämpft, aber nicht still. Es gibt hier keine richtige Einteilung der Zeit mehr und deshalb auch keine falsche. Um acht Uhr morgens kann man auf eine Party gehen oder auch nachts um drei. Um 18 Uhr frühstücken oder morgens um vier. Nicht synchron, sondern zeitversetzt läuft der Alltag der Menschen in der Stadt ab. Die Gegenstimme des Tages fehlt – das Dunkle, Unbeleuchtete. Der Rhythmus, der Wechsel zwischen dem Tag und der Nacht, ist verschwunden.
Weil ich sie nicht mehr kenne, die Nacht, ihre Schwärze, ihre Stille, will ich an den dunkelsten Ort Deutschlands fahren. Ich will erleben, wie mit der Dämmerung eine andere Zeit beginnt, will ein Gefühl bekommen für Anfang und Ende, für Schaffen und Ruhen, für Sehen und Ahnen.
Am Ende der Straße ist die Havel – der Fluss
Ich war schon einmal an diesem dunkelsten Ort Deutschlands, an der Grenze von Brandenburg und Sachsen-Anhalt, und habe dort meine hellste Nacht im Freien erlebt: eine Vollmondnacht im August. „Supervollmond“, schrieben die Zeitungen. Meine Freundin und ich legten uns in sein weißes Licht und schauten in den Himmel. Wir konnten die Sternenkarte lesen, die wir nicht brauchten, weil wir die Sterne nicht sehen konnten, so hell war es.
Ein halbes Jahr später, im Winter bei Neumond, fahre ich wieder dorthin: ins Westhavelland, nach Gülpe, wo die Nächte so dunkel sein sollen wie in der Wüste von Namibia. Ich packe einen Essay des Philosophen Byung-Chul Han ein. Er heißt: „Bitte Augen schließen“.
Han beginnt mit einem Hegel-Zitat. „Alles Vernünftige ist ein Schluss“, hatte dieser geschrieben. Ein Schluss, das bedeutet, dass Anfang und Ende eine sinnvolle Einheit bilden. Eine Erzählung ist ein Schluss, schreibt Han. Rituale sind Schlüsse. Die Nacht – eigentlich müsste sie auch ein Schluss sein.
„Beunruhigend an der heutigen Zeiterfahrung ist nicht die Beschleunigung als solche“, steht bei Han. „Sondern der fehlende Schluss, der fehlende Takt und Rhythmus der Dinge.“
In Rathenow steige ich aus dem Zug. Von dort geht es mit dem Bus eine Stunde über das Land. Grün, blau, beige ist es. Und der Himmel rosa.
Gülpe liegt am Ende einer Straße. Dahinter kommt die Havel – der Fluss. Früher sind die Leute über die Deiche nach Sachsen-Anhalt geklettert und dort in die Disco gegangen. Seit das Westhavelland ein Naturpark ist, geht es nicht mehr.
Der Bus setzt mich ab. Vor mir liegt eine krumme Straße mit Pfützen und Backsteinhäusern, viele zerfallen. Es ist 15.45 Uhr, auf der Bustafel sehe ich: Heute komme ich nicht mehr fort.
160 Menschen wohnen in Gülpe, ein 13-jähriges Mädchen, ein paar kleine Kinder, erzählt man mir, sonst nur Mittelalte und Alte. Die Kirche ist geschlossen, die Sonne untergegangen.
Es wird jetzt schnell dunkel. Um 17 Uhr ist dort, wo das Dorf endet, nur noch schwarze Fläche. Ich taste mich durch die Kopfsteinpflasterstraßen, die von ein paar Straßenlaternen und dem Licht aus den Fenstern kaum erleuchtet werden. Ich schaue in die Häuser, sehe Menschen vor Computern sitzen. Eine Frau mit grauen Haaren und großer Nase spielt Solitär.
Nur die Leute, die ihre Hunde ausführen, sind noch draußen. Eine Frau mit müdem Gesicht sagt, sie mag die Dunkelheit, weil sie dann keine Menschen sieht.
Ich gehe ein paar Schritte und bleibe dann stehen
Eine Erzählung lässt sich nicht beliebig beschleunigen, schreibt Han. Hier liegt der Unterschied zwischen Narration und Addition. Hinzufügen kann man viel, in einer beliebigen Geschwindigkeit, Fotos, Informationen, Erlebnisse. Aber die narrative Bahn ist schmal und selektiv. Man kann nicht beliebig oft zu einem Schluss kommen, nicht beliebig viele Schlüsse ziehen. Nicht beliebig viel Sinn erleben.
Ich weiß nicht, wohin ich laufe. Ich gehe ein paar Schritte, dann bleibe ich stehen. Höre ein Rascheln im Gebüsch neben mir. Noch ein paar Schritte. Ein Käuzchen ruft. Mein Herz klopft. Im Rücken spüre ich das Licht der letzten Straßenlaterne, aber ich bin längst von Dunkelheit umgeben. In der Ferne schnattern Gänse. Es ist ungefähr acht Uhr abends und fühlt sich später an.
Die Beschleunigung ist nur ein Symptom, schreibt Han. Sie hat ihre Ursache in der allgemeinen Unfähigkeit zu schließen und abzuschließen. Die Zeit stürzt fort, weil sie nirgends zum Schluss und Abschluss kommt. Es gibt keine Dämme mehr, die den Fluss der Zeit rhythmisieren, ihr Halt geben, Halt im doppelten Sinne.
Hier aber, in der Dunkelheit, führt die Nacht nicht einfach den Tag fort. Sind die Sinneseindrücke reduziert, werde ich zum Abschluss gezwungen. Die Tagzeit ist vorbei, etwas anderes angebrochen.
Ich gehe langsam. Nach ein paar Metern warte ich, manchmal gehe ich ein paar Schritte zurück, weil mich die Geborgenheit des Dorfes anzieht. Hier draußen auf der Landstraße bin ich der Dunkelheit und ihren Gefahren preisgegeben. Stück für Stück kämpfe ich mich weiter.
Am Himmel glitzert es. Ich kann die Milchstraße sehen. Orion und Andromeda. Zumindest vermute ich das, im Hellen habe ich mir noch die Sternenkarte angesehen. Dann richte ich meinen Blick wieder in die Nacht. Meine Augen fühlen sich jetzt anders an. Weiter. Die Dunkelheit ist nicht mehr schwarz, sondern dunkelgrau. Ich betrachte die Umrisse in der Ferne, die verschiedenen Schattierungen: Rechts neben dem Weg ist etwas Großes, Helles, das mich überragt. Ich vermute: Heuballen, in Plastikfolie gewickelt.
Noch ein Stück weiter. Immer wieder raschelt es. Ich muss an Wölfe denken, deren Jagdgebiete ich mir auf der Karte angesehen habe. Sie waren auch hier, an der Grenze von Sachsen-Anhalt und Brandenburg. Ich denke an das weißrussische Mädchen, das von einem Wolf gefressen wurde. Sie musste nachsitzen, bis es dunkel war, und ist dann durch einen Wald nach Hause gelaufen. Am nächsten Morgen fand die Familie nur ihren Kopf. Ihr Vater erschoss den Lehrer.
Am Himmel erscheinen immer mehr Sterne. Ich sehe sie unscharf, leicht verschwommen, wie unter Wasser.
Das Fest ist selbst eine Schlussform, schreibt Han. Der Feierabend als Vorabend des Festes kündigt eine heilige Zeit an. Wird jene Grenze aufgehoben, die das Heilige vom Profanen trennt, so bleibt nur das Banale und Alltägliche.
Ich laufe langsam wieder Richtung Dorf. Die Straßenbeleuchtung kommt mir grell vor. Zehn Uhr zeigt die Kirchturmuhr. Nach fünf Stunden in der Dunkelheit fühle ich mich, als wäre es drei Uhr nachts. Es ist, als warte das stumme Dorf darauf, dass ich endlich meinem Rhythmus folge und schlafen gehe. Den Tag abschließe und morgen etwas Neues beginne. Ich bin unglaublich müde. Niemand ist auf der Straße. Nichts bewegt sich. Die Frau mit der großen Nase spielt immer noch Solitär.
Der gute Schlaf selbst ist ein Schluss, schreibt Han. Das erschöpfte Leistungssubjekt dagegen schläft so ein, wie das Bein einschläft. Auch die Schlaflosigkeit rührt von der Unfähigkeit zu schließen. Man muss den Tag abschließen können, um einzuschlafen. Heute schließt man die Augen, wenn überhaupt, aus Müdigkeit und Erschöpfung. Zutreffender wäre: Die Augen fallen zu. Ein Schluss ist das nicht.
Hat das Leben keinen Rhythmus, kennt es keinen Feierabend, gibt es am Ende des Tages auch keinen Abschluss, sondern nur eine Unterbrechung der Arbeit, des All-Tags. Während ich zu meiner Pension laufe, denke ich an Puppen, deren Augen zufallen, wenn man sie auf den Rücken legt. Und die sich wieder öffnen, wenn man sie aufrichtet.
Als ich zu Bett gehe, lasse ich die Vorhänge offen.
Beim Weitergehen finde ich das Helle wieder
Der nächste Tag ist nass und verhangen. Ich besuche die Orte der Nacht. Ein Weg aus Betonplatten, feuchte Felder. Ich entdecke, dass ich umgeben war von Häusern, als ich schon dachte, da wäre nur Dunkelheit. Als ich weiterlaufe, finde ich das Helle wieder: Röhricht, eine Mischung aus Gras und Schilf, so hoch wie die Bäume. Dahinter liegt der Fluss.
Im Zug zurück lese ich den Schluss von Byung-Chul Hans Essay. Er erzählt von einer Death-Metal-Band, die nicht wusste, wie sie ein Musikstück, das keine Struktur hatte, beenden sollte. Die Musiker waren erleichtert, als die Lautsprecher aus Überbelastung durchknallten. Die Erlösung kam in Form einer Katastrophe. So abrupt, schreibt Han, zur Unzeit und letzten Endes katastrophisch wird auch unsere Welt enden, die sich aufgrund der fehlenden Schlussform immer mehr beschleunigt.
Wieder ist Nacht, als ich, zurück in Berlin, diesen Text schreibe. Ich höre ein Käuzchen. Ich schaue mich um und stelle fest: Was ruft, ist der Fernseher meines Nachbarn.
Steffi Unsleber, 28, ist Redakteurin der taz.am wochenende
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen