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Archiv-Artikel

Ab in die Egotherapie!

Knapp 300.000 Menschen waren im Berlin im Dezember arbeitslos. Auch Karin. Ihr Leben ist ein gestaltloser Brei. Sie gehört zu den Leuten, die Angst vor allem haben, was irgendwie mit Dynamik zusammenhängt. Eine Geschichte von Zeitmanagement und Langeweile, Fitness und Goldgruben

von STEFAN DAVID KAUFER

Niemand macht Karin einen Vorwurf, dass sie sich’s im Lehnsessel unserer Solidargemeinschaft bequem gemacht hat. Aber sie kann doch nicht erwarten, dass die Zeitungen auch noch auf sie Rücksicht nehmen. Soll man den Stars in der Rubrik „Vermischtes“ etwa wegen Karin verbieten, zu erzählen, dass sie trotz ihrer Hetze von einem Drehort zum anderen noch Zeit haben, ein Kind zu kriegen?

Obwohl sie keine Zeit haben, wie geht denn das? „Zeitmanagement“ ist das Zauberwort, aber für jemand wie Karin ist das wohl ein Wort mit sieben Siegeln. Tja. Die sitzt lieber im Café und trinkt Latte Macchiato. Jetzt braucht sie aber kein schlechtes Gewissen zu bekommen. Das kommt davon, wenn man sich eine Zeitung holt und sie auch noch aufschlägt. Sie liest: „Knapp 300.000 Menschen waren im Dezember in Berlin arbeitslos gemeldet. So viel wie seit der Wende nicht mehr.“ Karin ist dabei.

Sie liest, was Sven Hannawald, der Ski-Adler aus Sachsen, in der Super-Illu sagt: „In meiner Heimat ist im Bereich Sport nach der Wende vieles zusammengebrochen. In Hinterzarten haben wir seit sechs Jahren tolle Erfolge. Ich bin froh, dass ich diesen Weg gegangen bin.“

Sie hört, was Tanja am Nebentisch zu ihrer Freundin Anne sagt: „Aber man muss seinen Weg natürlich auch erst einmal finden. Das geht nicht so ruckzuck bei jedem, nicht bei jedem geht das immer so geradlinig wie bei mir. Bei meiner Schwester zum Beispiel, die hat erst einmal gejobbt und sie hat auch mal ein Studium angefangen.“

„Und was macht sie jetzt?“

„Jetzt macht sie schon seit zwei Jahren eine Ausbildung zur Ergotherapeutin. Jetzt weiß sie, wo sie lang will. Jetzt. Aber für meine Eltern war das nicht immer leicht, die haben das nicht begriffen, dass manche Menschen eben länger brauchen, um ihren Weg zu finden.“

„Du, was ist das denn eigentlich, Ergotherapeutin?“

„Das ist eine Bewegungs- und Beschäftigungstherapie ...“ Tanja zögert kurz und wird sogleich von einem leisen Kreischen aus Annes Mund unterbrochen: „Beschäftigungstherapie? Na, das wäre für so manchen Arbeitslosen was!“

Tanja ist peinlich berührt. Sie ärgert sich, dass sie sich so ungeschickt ausgedrückt hat: „Ja, das klingt ein bisschen komisch, ich weiß. Das ist aber eine ganz wichtige Sache, das, was die da machen. Wenn Leute zum Beispiel längere Zeit krank sind und aussetzen müssen, beruflich, meine ich, oder alte Menschen, für die ist das ganz wichtig, dass die etwas machen können, dass sie wieder etwas mit ihren eigenen Händen machen können. Viele kann man damit wieder zurückholen, mit solch einer Therapie, dass sie etwas mit ihren eigenen Händen arbeiten müssen, in ein geregeltes Leben!“

„Ach so. Jaja, das ist schon ganz gut, dass es so was gibt. Da denkt man nur immer zuerst an Irrenanstalt, bei so was“, lacht Anne entschuldigend.

„Ja, das gehört auch dazu“, gibt Tanja zu. „Das ist eben auch was ganz Soziales. Aber wenn man einmal drüber nachdenkt, merkt man, wie wichtig das ist.“

„Ja“, sagt Anne und spielt mit ihrer Kuchengabel. „Deine Schwester, deine Familie überhaupt, die ist immer noch oft Gesprächsthema bei meinen Eltern.“

Karin bezahlt, gibt ziemlich viel Trinkgeld und geht schnell. Aber natürlich ist ihr bald zu kalt. Abgehärtet ist sie kein bisschen. Sie fährt U-Bahn. Sie hat nichts mit ihrer Zeit zu tun und weiß nichts mit sich anzufangen. Und klar, sie gibt wieder mal ihren schlechten Eigenschaften nach, steigt am Alex aus und geht in die Galeria Kaufhof. Was könnte sie sich kaufen, was könnte sie einige Augenblicke lang von ihrer selbst verschuldeten Langeweile ablenken?

Sie steht vor der Tafel, auf der alle Abteilungen verzeichnet sind. Hier unten ist die „Welt der schönen Dinge“. Einen Stock weiter oben wartet die „Damen- und Herrenwelt“. Sie findet, warum auch immer, sie könnte sich wieder mal was Schönes zum Anziehen kaufen. Obwohl sie alles andere als sportlich ist, nimmt sie die Rolltreppe nicht. Jemand mit psychischen Defekten wie Karin gehört zu den Leuten, die Angst vor allem haben, was irgendwie mit Bewegung und Dynamik zusammenhängt. Sie kann es nicht ertragen, wenn die Stufen, die sie – wie die Solidargemeinschaft – tragen, plötzlich aufhören und in ein Ziel einmünden. Sie nimmt den Lift.

Im ersten Stock gibt es eine Marke nach der anderen, aber die Sachen kommen ihr alle bekannt vor. Sie langweilt sich weiter. Sie passiert den Durchgang zur „Sportarena“. Vielleicht, so überlegt sie, ist es die fehlende Fitness, die ihr Leben zu einem einzigen Brei hat werden lassen. Sie läuft an den aufgestapelten Turnschuhen vorbei und landet bei den Rollerblades. Natürlich entscheidet sie sich instinktiv für das Bequemste. „Überlegen Sie, für welchen Zweck und wie oft Sie skaten wollen“, steht auf einem großen Kaufberatungsschild. Sie denkt kurz nach, aber sie kommt wie immer zu keinem Ergebnis. Schräg gegenüber ist der Hometrainer-Stand. Aber die Stehfahrräder gefallen ihr nicht, obwohl sie doch auch jemand ist, der nie vom Fleck kommt. „Sport-Nahrung“, liest sie daneben. Vielleicht ernährt sie sich ja auch nur falsch. „Fit Aktiv Light Mineral Vitamin Drink Multi Power“, liest sie auf einer Dose. „Kann ich Ihnen helfen?“, fragt sie jemand von der Seite. Ein Verkäufer, der sie anlächelt und nichts anderes macht als seinen Job. Aber natürlich schaut sie verschämt zur Seite und geht für ihre Verhältnisse sehr schnell davon. Und rettet sich per Lift zurück in die Welt der schönen Dinge.

Das viele schöne Silber und Gold ist ihr vorher gar nicht aufgefallen. „Der Kaufhof – Die Goldgrube“, steht in der Vitrine und im Prospekt daneben: „Amor – Ist warm ums Herz sein.“ Die dünne Kette voller kleiner Herzen kostet schlappe 41 Euro. Wie hypnotisiert greift sie zu ihrem Portmonee. Und kauft sich das Amor-Produkt von unserem Geld, für das wir gearbeitet haben. Für wen eigentlich?