: Ab Semester 1 am Krankenbett
Bislang durften Mediziner in spe echte Patienten erst spät im Studium kennen lernen. Mit der neuen Approbationsordnung wird das anders: Medizinstudis sollen sich selbständig am lebenden Objekt schulen. Konservative Fakultäten haben Bedenken
VON SEBASTIAN SEDLMAYR
Was sich derzeit in den medizinischen Fakultäten der Universitäten abspielt, ist eine kleine Revolution. Die fertigen Ärzte der nächsten Generation werden nicht mehr als reine Theoretiker dastehen, wenn ihnen zum ersten Mal ein echter Patient gegenübertritt. Denn die Medizinstudenten-Jahrgänge werden ab jetzt bereits im Grundstudium Fälle aus der Praxis kennen und diagnostizieren lernen. Bislang nehmen angehende Ärzte erst am Ende ihres Studiums, im „Praktischen Jahr“, Kontakt zum lebenden Patienten auf.
Grundlage der Studienreform ist die neue „Approbationsordnung für Ärzte“. Sie ist bereits zum 1. Oktober in Kraft getreten, aber ihre Umsetzung fällt den Medizinfakultäten nicht leicht. Schon bei der Lektüre von Paragraf 2 kräuseln manche Dekane ihre Stirnfalten: „Unterricht am Krankenbett, Praktika und Blockpraktika“, heißt es da. Und weiter unten: „Der Lehrstoff der praktischen Übungen soll sich an der ärztlichen Praxis ausrichten.“
Professor Gebhard von Jagow, Präsident des Medizinischen Fakultätentages, der an der Ausarbeitung der Novelle maßgeblich beteiligt war, sagt zwar: „Ich bin überzeugt, dass es mit der neuen Approbationsordnung eine deutliche Verbesserung in der medizinischen Ausbildung gibt.“ Doch konservative Medizinerkollegen fragen bereits besorgt: „Wo bleibt das theoretische Fundament?“ Die Dekane wollen auch wissen: „Wer soll das bezahlen?“
Gerade das „problemorientierte Lernen“ (PoL) sorgt in einigen Universitätsgremien für Aufregung. „Problemorientiert“ ist nicht nur ein häufig verwendetes Wort in der Verordnung aus dem Haus der Gesundheitsministerin Ulla Schmidt. PoL ist eine Lehrmethode: Fünf Studenten besprechen unter Aufsicht eines Tutors einen Krankheitsfall aus dem medizinischen Alltag. Sie stellen Hypothesen über Art und Ursache der Erkrankung auf. Dann setzen sie sich selbst Lernziele, zum Beispiel: „Wie funktioniert das HI-Virus?“ Nach der ersten Sitzung haben die Studenten eine Woche Zeit, um mittels Sekundärliteratur, Befragung von Experten und weiteren Recherchen auf ihre eigenen Fragen Antworten zu finden. Sie sollen so lernen, selbstständig und kreativ an Fälle heranzugehen und sich vom medizinischen Problem aus die Grundlagen anzueignen.
Das Problem der klammen Fakultäten: Für die aufwändige Unterrichtsmethode ist kein Lehrpersonal da. „Wir haben eine Stellensperre“, beschreibt zum Beispiel Privatdozent Johannes Schulze die Problematik, „solange der Geldgeber nicht willens ist, in die Lehre zu investieren, wird sich nichts ändern.“ Schulze arbeitet in der Medizin der Frankfurter Goethe-Universität.
Fakultätentagspräsident von Jagow verhehlt nicht, dass PoL teurer ist als konventioneller Unterricht. Er will den absehbaren Geldmangel aber anders beheben – weniger Studenten: „Wir können nicht mehr die gleichen Studentenzahlen ausbilden“, sagt der Medizinprofessor. Die Privatuniversität in Witten/Herdecke geht diesen Weg schon seit 1995. Damals stellte die als gemeinnützige GmbH firmierende Hochschule ihren gesamten Lehrplan auf Lernen am Problem um. Seit April 2000 ist Medizin dort Modellstudiengang.
Die Wittener Fakultät schickt ihre 42 Studienanfänger zu Allgemeinärzten und ins Krankenhaus – damit sie ganz früh Erfahrungen sammeln können. Bereits in den ersten beiden Ausbildungsjahren verbringen die Studiosi fast so viel Zeit mit Patienten wie im Hörsaal. Mehr als hundert von der Uni bezahlte Allgemeinärzte nehmen wochenweise „Adoptivstudenten“ auf. Die lernen so von Anfang an den beruflichen Alltag kennen. Der Aufwand hat seinen Preis. Ein Studium an der Privatuni im Ruhrgebiet kostet 15.000 Euro.
Auch einige staatliche Fakultäten wie die Berliner Charité und die Ruhr-Uni Bochum haben ihr Medizinstudium bereits auf Praxis umgestrickt. Die Jahrgänge sind ähnlich klein wie in Witten/Herdecke – und der Andrang ist groß. An der Charité kommen sechs Bewerber auf einen Studienplatz. Von 360 Erstsemestern pro Jahr kann der reformierte Studiengang nur 63 aufnehmen. Die Bochumer haben ihre neue Medizinerausbildung im Oktober mit 42 Plätzen eröffnet.
Andere, die weder Fördermittel für einen Modellstudiengang noch Studiengebühren bekommen, stöhnen über das „Diktat aus Berlin“ und wissen nicht, wie sie damit umgehen sollen. Obwohl die Approbationsnovelle bereits am 27. Juni 2002 veröffentlicht wurde, basteln viele Fakultäten immer noch an der Umsetzung in eine neue Studienordnung. Die Uni Erlangen etwa hat gerade mal die so genannte Vorklinik umgestellt, also das Grundstudium. „Man berücksichtigt nicht die Lage an den Universitäten. Es fehlt am Personal“, beklagt Nicola Wiechmann vom Erlanger Studiendekanat. An der eher konservativen Fakultät gibt es allerdings einen weiteren Grund für die zögerliche Umsetzung: „Wir meinen, die Leute brauchen gewisse Strukturen“, sagt Wiechmann – und meint damit die offene Lehrform PoL. „Problemorientiertes Lernen wird bei uns sicher kein Schwerpunkt werden.“
Schwerpunkt oder nicht – das Lernen am Krankenbett, in der Arztpraxis und im PoL-Seminar wird künftig das Grundstudium prägen. Eine Sprecherin des Bundesgesundheitsministeriums bestätigte, dass im Gegenzug der „Arzt im Praktikum“ abgeschafft wird: „Wer nach neuer Approbationsordnung studiert, wird keinen AiP machen müssen.“
Die studentischen Vertretungen, die Fachschaften, glauben das erst, wenn sie es schwarz auf weiß im Bundesgesetzblatt lesen. Sie sind unzufrieden mit der Umsetzung der Novelle. „Chaotisch“, schimpft zum Beispiel Michael Prinz von der Fachschaft der Universität Düsseldorf. Sein Hauptkritikpunkt: Die neue Approbationsordnung gilt für alle, die am 1. Oktober noch kein erstes Staatsexamen hatten. Der Haken daran: Auch wer sein Studium schon begonnen hatte und nun auf die neue Ordnung umsatteln muss, braucht benotete Leistungsnachweise in Fächern, die bislang gar nicht benotet wurden. „Kein Prüfungsamt will für alte, unbenotete Scheine Äquivalenzbescheinigungen ausstellen“, klagt auch Nicolas Hoffmann. Der Vorstand des Fachschaftenzusammenschlusses „Fachtagung Medizin“ befürchtet: „Manche werden Opfer der unausgegorenen Studienordnungen.“