AUS DER REIHE »FRÜCHTE DER JUGEND«: Erwin B.
■ Ein Kurzreport von Carola Wimmer und Claudius Hagemeister
Es klingelt an Bellas Tür. Davor steht ihr Nachbar — Erwin B.
Am 2. Juni 1960 befreite sich Erwin B. erstmalig aus neunmonatiger Haft: aus dem Mutterleib.
Schon frühzeitig lernte er das Gesetz der Straße kennen: Fick sie, bevor sie Dich ficken! — Diese Devise sollte sein späteres Leben bestimmen.
Am 14. April 1963 versuchten seine Eltern, Erwin in einem Kindergarten unterzubringen. Der Versuch scheiterte, als er auch die anderen Kinder anstiftete, aus Bauklötzen Barrikaden zu bauen und die Erzieher mit Legosteinen zu bewerfen.
Im Sommer 1966 wurde Erwin eingeschult. Kaum hatte er schreiben gelernt, wurde er vor der Schule beim Verteilen illegaler Flugblätter festgenommen, in denen er zum »Streik und militanten Widerstand gegen den autoritären Despotismus des vom kapitalistischen Staat diktierten Schulsystems« aufrief. Seine gesamte Schullaufbahn war von »direkten Aktionen« gegen das bestehende Schulsystem begleitet. Während dieser Zeit wurde er 106 mal festgenommen. Allein in den Jahren 67/68 verbrachte er insgesamt 2 Monate, 3 Tage und 17 Stunden in polizeilichem Gewahrsam. Die Mahnungen und Tadel seiner Lehrer, denen er nur mit Verachtung begegnete, blieben ungezählt.
Im Januar 1978 bereiste er Nicaragua. Dort schloß er sich der FSLN an, bei der er eine militärische Ausbildung erfuhr. Frustriert von den harten körperlichen Bedingungen, der hohen Lebensgefahr und der Erkenntnis, daß eine Ausbildung dieser Art kaum hilfreich für den Aufbau einer Stadtguerilla in der Bundesrepublik Deutschland sein würe, kehrte er allerdings schon am 7. Mai desselben Jahres nach Berlin zurück.
Aufgrund der zahlreichen und ausführlichen Presseberichte dürfte der Rest der Geschichte weitgehend bekannt sein: Erwin B. gründete die »Schwarze Armee Fraktion Tiergartens«. Nach einem spektakulären Bombenanschlag ging diese einen Zusammenschluß mit der »Anarchisch-Proletarischen Föderation Elitärer Laienguerilleros« ein. Unter dem Kürzel »APFEL/SAFT« wurden gemeinsame Anschläge begangen. Die Bezirksämter, das Internationale Congress Centrum (ICC), Wachen und Meldestellen der Polizei, das Rathaus Schöneberg, sogar Schulen und andere staatseigene Gebäude aller Art waren Angriffen ausgesetzt. In ihrem Verlauf kam es häufig zu erbitterten Feuergefechten mit der Polizei, bevor die Bauwerke zerstört wurden.
Durch allmählich fruchtende Fahndungserfolge gelang es der Polizei schließlich, einige Mitglieder der APFEL/SAFT zu stellen und in den Vollzug zu überführen. Dadurch wurde die Kampfkraft der Gruppe empfindlich geschwächt, was das Ausbleiben befürchteter gewaltsamer Gefangenenbefreiungen erklärt. Statt dessen entführte das »Kommando Klaus Kinski« den damaligen Vorsitzenden der APFEL/KORN (Allgemeines Politisches Prestige Europäischer Länder/Konservative Observations-Riege Norddeutschlands), Peter N.
Die zuständigen Sicherheitsbeamten waren von der Plötzlichkeit des unerwarteten Angriffs so überrumpelt, daß sie in ein anhaltendes apathisches Grübeln versanken und bis heute unvernehmbar blieben.
Die von der APFEL/SAFT erhobene Forderung nach »massenhaft Geld und Freilassung aller inhaftierten Mitglieder der APFEL/ SAFT sowie aller übrigen Gefangenen zur Einlösung dieser kapitalistischen Drecksau« wurde von maßgeblichen Vertretern der APFEL/KORN als »unverschämt und unakzeptabel« zurückgewiesen. In Folge dessen wurde Peter N. grausam hingerichtet. Die finanzielle und personelle Lage der APFEL/SAFT blieb katastrophal. Der Versuch Erwin B.s, diese Situation durch den Verkauf der von ihm verfaßten Schrift »Staaten stürzen — leicht gemacht« zu ändern, scheiterte an den in Folge der Illegalität stark beengten Absatzmöglichkeiten. Daher unternahm die APFEL/SAFT einige abenteuerliche Banküberfälle, die zu der seitdem angespannten Wirtschaftslage führten.
Der momentan nur mit einer Jogginghose bekleidete Erwin B. ziert sich lange, bis er endlich kundtut: »Ich würde eigentlich gerne 'mal — äh — mit dir schlafen.«
Nachdem Bella vor Schreck zunächst einmal überhaupt nichts denkt, denkt sie: »Ach Gott, der Arme! Sicher haben sie ihm diese Offensive in seiner Selbsthilfegruppe nahegelegt. Gehört zur Therapie.«
Deshalb lügt sie — an seine Tugend appellierend: »Ich hab' 'nen Freund« und schließt die Tür.
Neben der Polizei und dem Verfassungsschutz setzten sich schließlich auch internationale Geheimdienste und diverse Bürgerwehren für eine breit koordinierte Terrorbekämpfung ein. Das »Polizeiliche Informations- und Sicherheitssystem« (PISS) wurde gemeinsam erarbeitet. Darufhin gelang es endlich, einen V-Mann in die APFEL/SAFT einzuschleusen. Er beschrieb die Stimmung in der Gruppe als »gereizt, resigniert, nervös und gehetzt«, die Mitglieder wirkten auf ihn »übermüdet, blaß, fahrig, regelrecht krank und elend — sozusagen urlaubsreif.«
In dieser Situation sahen die Terroristen nur noch einen Ausweg: Die Flucht aus Deutschland.
Am Sonntag, dem 27. Juli 1989 um 12 Uhr mittags, also am hellichten Tag, drängten die verbliebenen sieben Terroristen zu einer vierköpfigen Familie in einen gelben VW-Golf. Mit vorgehaltenen Schußwaffen zwangen sie den Fahrer zur Kursänderung. Doch noch vor der Stadtgrenze, deren Überwindung trotz der Geiselnahme ohnehin mehr als fraglich gewesen wäre, zeigte sich die Effektivität des PISS: Die Straße wurde mit Rauchbomben eingenebelt, Eliteeinheiten sprengten die Türschlösser des entführten PKWs. Erbitterter Widerstand provozierte eine Orgie beispielloser Gewalt, während der neben Erwin B.s Genossen auch die Geiseln und zahlreiche junge Polizisten ihr tragisches Ende im Kugelhagel fanden.
Erwin B. selbst entzog sich durch Suizid seiner Verhaftung.
Bella nimmt durch einen flüchtigen Blick in die Zeitung den Freitod ihres bedauernswerten Nachbarn zur Kenntnis.
Am 2. Mai um 20 Uhr lesen die Autoren aus ihrem Werk im Arca Noa (Muzak: Carsten Hasseloff). Erwin B. ist dem Sampler Heraklits Party. Kurze Texte von Carola Wimmer und Claudius Hagemeister, erschienen im Einmann-Verlag Thomas Schwericke, entnommen. Der Band ist für 5,-DM im Kreuzberger fsk-Kino, im Eiszeit, im Videodrome, Barbarella 97, Sojus in der Wiener Straße und im Groben Unfug käuflich zu erwerben.
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