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AUGENHÖHEJule Ehlers-Juhle wollte nicht über Flüchtlinge lesen, sondern etwas tun. Seit sie eine syrische Familie begleitet, sieht sie ihr Dorf anders„Wir finden uns immer wieder über die Toleranz“

Protokoll Friederike Gräff

Ich habe viel über das Flüchtlingselend in den Medien gelesen – irgendwann habe ich es nicht mehr ausgehalten, in der Gemeinde angerufen und gefragt, ob ich irgendwie helfen kann. Die waren ganz offen, meinten sie geben mir Bescheid, wenn es notwendig werde und eine Woche später haben sie angerufen und sagten, sie hätten eine syrische Familie für mich. So fing das an.

Ich war so halb mit ehrenamtlicher Arbeit vertraut, ich bin eine Art Sozialkünstlerin, von daher sind die Themen bei mir präsent. Bei der Gemeinde hatte ich gesagt, dass es mir egal sei, aus welchem Land die Flüchtlinge kommen, aber ich war besonders berührt von den syrischen Flüchtlingen, weil die Situation dort so furchtbar ist und dieses schöne Land dem Erdboden gleichgemacht wird.

Meine Vorstellung, was ich tun könnte, war eher unkonkret und ich wusste auch wenig über das Dublin-Abkommen und solche Dinge. Das ist mir dann alles auf den Kopf gefallen, was das konkret bedeutet.

Die Frau, Nesreen Taha, spricht ganz gut Englisch und ich auch, von daher läuft die Verständigung gut. Die älteren Kinder sprechen schon ganz gut Deutsch, obwohl sie erst seit Herbst letzten Jahres hier sind. Sie sind schon durch die Medien gegangen, weil es in Salzhemmendorf eine Schülersolidarität unter dem Motto „Save Kraja“ gab, das ist die Familie. Die Schüler haben mehr erreicht als wir alle zusammen – ich war sehr begeistert davon, dass unsere Jugendlichen ein bisschen was im Kopf haben. Bisher habe ich gedacht, dass sie hauptsächlich konsumorientiert sind, an ihren Computern und Handys herumhängen. Da habe ich jetzt eine ganz andere Erfahrung gemacht.

Die beiden älteren Jungen aus der syrischen Familie, ein 15- und ein 17-Jähriger, kommen mir schon ein bisschen reifer vor als die Jugendlichen hier im Allgemeinen. Sie haben einfach andere Dinge erlebt. Wobei es ja eigentlich positiv ist, dass das hier nicht so ist, dass man irgendwie durchrutscht.

Zum ersten Treffen mit der Familie bin ich mit einer Frau von der Gemeinde gegangen und es war gleich sehr freundlich, warm kann man sagen. Die Familie war erst im Erstaufnahmelager bei Göttingen und kam dann nach Salzhemmendorf. Sie leben hier in einer ganz angenehmen Wohnung, die Gemeinde hat mit gespendeten Möbeln geholfen, sie einzurichten. Der Herr von der Gemeinde sagte mir, dass es eine Menge Sachspenden gibt, es gibt auch eine Familienhilfe, die sehr tatkräftig geholfen hat.

Ich bin öfter mit der Nesreen Taha auf dem Wochenmarkt, sie trägt Kopftuch, aber niemand guckt blöd oder macht blöde Bemerkungen. Vielleicht gucken die Leute neugierig, aber sie sind alle freundlich. Das finde ich sehr positiv, denn es gibt hier nicht viele Frauen, die Kopftuch tragen. Mir ist bei allem aufgefallen, wie wichtig es ist, den anderen auf Augenhöhe anzunehmen. Also nicht anzunehmen, dass wir die Weisheit mit Löffeln gefressen haben und die anderen alle auf Bäumen leben, egal welche Ausbildung sie haben und woher sie kommen.

Was für mich erschütternd war, war die Geschichte, die die Familie durchlebt hat, und dann diese Rechtsunsicherheit hier, dass niemand so richtig weiß: Was passiert denn jetzt? Man muss sagen, es ist eine eher privilegierte Familie, die Eltern sind beide Zahnärzte in Syrien gewesen, und die Familien haben ein bisschen Geld. Sie sind mit 60.000 Dollar in der Tasche losgefahren und die haben sie für die Flucht fast ausgegeben. Was machen die armen Menschen, die nicht so viel Geld in der Tasche haben? Diese Familie kann sich ganz gut helfen, andere können das nicht.

Die Familie wollte nach Schweden, der Schlepper hatte ihnen auch versprochen, dass sie dort landen würden, stattdessen kamen sie in ein Lager in Slowenien, das wohl jeder Beschreibung spottet und wurden behandelt wie Gefangene. Da sind sie abgehauen, nach Schweden, wurden letztlich wieder nach Slowenien abgeschoben und kamen von dort nach Deutschland, mit dem Taxi.

Wir sind Freunde. Sie kommen zu uns in den Garten, ich besuche sie oft, wir telefonieren und sie erzählen immer mehr Details. Die Familie kommt aus Homs, wo das Desaster anfing, aber sie blieben eine ganze Weile, weil ihre Familien und ihre Praxen dort waren. Erst haben sie ein Haus in einem nahe gelegenen Dorf gekauft, aber als der Krieg auch dorthin kamen, mussten sie wieder flüchten. Alle möglichen Gruppierungen haben sich die Jungs gegriffen und versucht, sie einzuziehen.

Eine Weile hieß es, wenn sie ein halbes Jahr hier geduldet leben, ist Deutschland für ihren Fall zuständig, dann hieß es plötzlich von der Anwältin, das ist jetzt alles hinfällig, der hiesige Richter in Lüneburg habe gesagt, das gilt alles nicht mehr, Asylbewerber hätten grundsätzlich keinen Anspruch, dass Deutschland den Fall übernimmt.

Bislang hat keiner den Fall geprüft; unter welchen Bedingungen die Familie in Syrien gelebt hat, zählt ja nicht. Das war eine niederschmetternde Nachricht, die Familie war wie paralysiert, die Jungs haben dann das einzig Wahre gemacht, sie haben es per Facebook veröffentlicht. Daraufhin hat sich die Aktion „Save Kraja“ gegründet, das ist der Nachname des Mannes, es gibt ein Video, auf dem die beiden älteren Brüder in der Mitte stehen auf einem Platz, ringsum unheimlich viele Schüler, die rufen: „Save Kraja“.

Es sind mittlerweile fünf Kinder, der kleinste, der in Schweden geboren ist, ist fast zwei, das Mädchen ist vier und geht hier in den Kindergarten. Als ich sie kennenlernte, war sie sehr traumatisiert, sie hat fast nie die Hand ihrer Mutter losgelassen und wenn draußen ein Flugzeug vorbeiflog, hat sie sich versteckt. Jetzt hat sie eine Freundin aus Afghanistan, eine aus Deutschland und eine aus Simbabwe, die vier sind unzertrennlich, reden Deutsch miteinander.

Jule Ehlers-Juhle

69, lebt als Künstlerin im niedersächsischen Salzhemmendorf. Seit Ende 2014 betreut sie ehrenamtlich eine fünfköpfige syrische Flüchtlingsfamilie.

Der nächste ist zehn, er geht noch zur Grundschule, hat jetzt aber eine Gymnasial-Empfehlung. Ich glaube, dass er noch traumatisiert ist, er wirkte lange sehr abwesend auf mich, die beiden Älteren wachen nachts mit Albträumen auf. Sie sprechen sehr gut Deutsch, es ist toll, wie die sich eingefügt haben, sie wollen unbedingt hier bleiben und schon gar nicht nach Slowenien. Die Mutter hat mir viele Geschichten aus Homs erzählt, viele Bilder gezeigt – einfach grauenhaft, wie ihre Straße immer mehr in Trümmern liegt, dass da Nachbarn liegen, dass Kinder von Verwandten tot sind. Sie haben mir Bilder von toten Kindern in Aleppo gezeigt.

Die Familie hatte nicht nur die Zahnarztpraxen, die Familie des Mannes hat auch mit Gold gehandelt, sie hatten mehrere Geschäfte, die alle zerstört sind. Sie kümmern sich natürlich auch sehr, sie sehen immer die Nachrichten und verfolgen auch die Gesetzgebung. Sie wussten nichts vom Dublin-Abkommen, als sie hierher gekommen sind. Wäre der Krieg nicht, hätten sie nie ihr Land verlassen, auch die Leute nicht, die nicht so eine privilegierte Situation hatten.

Ich komme nicht aus einer privilegierten, sondern aus einer ziemlich einfachen Familie, meine Eltern haben mir das Studium irgendwie finanziert, aber da war nicht so viel Geld wie bei den Krajas. Wenn sie beschreiben, wie sie gelebt haben, ist das schon sehr anders. Auch in dem, was ihnen wichtig ist, Familie etwa hat bei ihnen eine sehr hohe Wichtigkeit.

Wobei wir uns immer wieder über die Toleranz finden. Nesreen trägt zwar Kopftuch, aber sie sagt: Mir ist wichtig, dass wir Menschen sind und nicht, dass wir Kopftuch tragen. Sie hat im Ramadan auch gefastet, die ganze Familie hat das getan. Das kann ich verstehen, das Kopftuch ist mir fremd, ich kann mir nicht vorstellen, dass ein Gott das will – aber ich akzeptiere das, auch weil ich sie sehr gern habe. Ihr Mann lernt mit Volldampf Deutsch und es macht Spaß zu sehen, wie viel Mühe sich diese Menschen geben, hier anzukommen.

Als die Gemeinde bei ihnen angefragt hat, was sie brauchen, hat Nesreen gesagt: „Ich brauche eigentlich nichts. Ich brauche nur Freunde.“ Ich bin 69 Jahre, genauso alt wie ihre Mutter und sie adoptiert mich als eine Art Mutter. Ich habe selbst keine Kinder, nun bin ich eben eine späte Mutter.

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