■ ARTUR, BERLINOID: Freispruch
Als auch Artur eines Tages dann doch einen Brief vom Kreiswehrersatzamt (er las immer »Wehrsatzamt«) bekam, schien das Leben wirklich grau und feldgrauer zu werden. Die Behörde verlangte ihn zu sehen, auf daß er gemustert (nach welchem Muster, mit welchem Muster?) werde. Der Arzt guckte ihm in den Hals, in den Hintern, er wurde gewogen und sein Blutdruck gemessen und für tauglich befunden. Und pro forma fragte man ihn dann noch, wohin er denn nun wolle, Fliegerei ginge nicht wg. Kurzsichtigkeit, Marine auch nicht wg. schlechter Zähne. »Zur Versorgung«, sagt Artur trocken, »Abteilung Küche, Kunst und Kultur bitte.« Der Arzt murmelte Unverständliches und notierte einige Worte in ein natoolivgrün gebundenes Wachstuchheft. Ach, Artur war überhaupt nicht nach Uniformen und Kasernen und Befehlen und Waffen.
Ihm wurde ein grauer Wehr-Paß geschickt. »Reicht denn mein normaler Paß nicht aus?« fragte sich Artur kopfschüttelnd. In dem Brief erfuhr er, daß er zu den Panzergrenadieren eingezogen werden sollte. Artur schrieb: »Meine Herren, meine Neigungen sind eher profan, ich will nicht zu den Grenadieren. Und da mein Kulturbegriff etwas liederlich ist, brauch ich auch keinen Wehrpaß. Per Einschreiben zurück, Friede sei mit Ihnen, Unterschrift Artur.«
Er packte seine Reisetasche. Der dritte Wagen schon nahm ihn mit, direkt nach Frankreich. Es sollte Jahre dauern, ehe sie sich wiedersahen.
Nun, irgendwann stellte sich die Frage nach dem Militär erneut. Und Artur hatte dem Neffen abgeraten, dringend abgeraten, Jahre zu verschenken, Waffen anzufassen und auf den Leim zu kriechen.
Der alte Vater, vor dem ersten großen Krieg geboren, aufgewachsen und gelitten in den Jahren danach, inflationiert, und dann eingezogen zum zweiten großen Krieg, auch angezettelt vom deutschen Staat, der in den letzten Tagen des großen zweiten Krieges ganz junge Menschen hatte krepieren sehen, der körperlich unversehrt, aus irgendwelchen Gefangenschaften zurückgekehrt war, der seine besten Jahre hatte verspielen und verhunzen lassen, dieser Mann sagte kein Wort, strich sich über's schlohweiße Haar und schien nur ein wenig blasser als sonst. Wieder zurück in Frankreich, um sich von seinem Vaterlande auszuruhen, bekam Artur einen Brief von ihm. »Du als Drückeberger, Artur«, hieß es darin, »hast kein Recht, Deinem Neffen Ratschläge zu erteilen, wenn es um die Verteidigung unserer freiheitlichen Demokratie geht.«
Von da an hatte Artur begriffen, daß der Tod bei manchen Menschen ein ganzes Leben lang dauert. Natürlich hatten ihm die Tränen in den Augen gestanden, auch die der Wut, aber von jenem Tag an war ihm klar, er würde sich von nun an endgültig an nichts mehr gebunden fühlen. Clemens Walter
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen