piwik no script img

■ ARTUR, BERLINOIDWenn wir jemals einen Plan haben, sind wir erledigt

Die Flüchtigkeit ist es, was die Ereignisse überhaupt spannend macht...«, murmelte er, strich immer und immer wieder seinen weißgrauen Kinnbart und blickte Artur nachdenklich an. Die Füße hatte er, locker, locker, auf den Amtsschreibtisch gelegt, neben sich eine abschreckend häßliche Keramiktasse, gefüllt mit einem kaffeeähnlichen Getränk, in der anderen Hand die Zigarette, Gestus und Mimik »aufgeklärter Reformpädagoge«, noch immer schulterlanges Haar, grau. Ein Mensch, dachte Artur, der Lehrer war, Volksschullehrer nannte man das wohl zu seiner Zeit, über die Jahre zu einem Amt und wohl auch Würden gekommen in einer jener Anstalten, die der wissenschaftlichen Pädagogik verpflichtet sind. Auch er, legte Artur blinzelnd seinen Kopf schief, wird viele Jahre gehockt und auswendig gelernt haben müssen für diesen Job, eigenes Büro, Telefonanschluß, Sekretariat, kann pinkeln gehen wann er will und wird, nu ja, nicht eben schlecht verdienen. Und im Herzen, glaubt Artur, hat der bestimmt noch die alte Vision von der gesellschaftlich nützlichen Arbeit: Wer bezahlt wird von der öffentlichen Hand, muß auch was bringen, stets und immer wieder gegen naseweise Sesselpuper, die genau erklären können, wo der Bartel den Most holt, Schreibtischstarrsinn.

»Weißt du«, unterbrach der Ergraute das beredte Schweigen, »ich habe für mich sowas wie Kompensationsrituale entwickelt«, ging an den limbafurnierten Schrank und stellte eine Flasche Württemberger Rotspon nebst zwei pekiger Gläser auf seinen Schreibtisch, schenkte ein und reichte Artur eines davon. »Zur Larmoyanzfraktion gehöre ich nicht, ich bestimmt nicht. Ich habe meine Bücher.« Und er wies mit einer bestürzenden Geste auf Stapel alter Folianten und Erstausgaben. »Auch ich trinke gerne Wein«, fügte er hinzu, »Rotwein ist die Milch der Greise!«, lächelte er fast ein wenig traurig. »Und ich habe gelernt, subjektiv zu sein, subjektiv, aber nicht sentimental.«

»Hmh«, nickte Artur mehrfach, »warum auch nicht?« Sein Gesprächspartner, die Flasche war einer zweiten gewichen, blätterte versonnen in einem abgewetzten Adreßbüchlein und Artur dachte bei sich: »Erziehungswissenschaft, oder wie? Die Pädagogik als solche, oder was?, da leuchteten die Augen seines Gegenübers. »Hier«, sagte er begeistert, 3014711, Sabine und...« er blätterte weiter, 6170469, Margot, mein Gott, und Maria erst, wie lang ist das schon her!«

Artur blickte irritiert, sein Gastgeber prostete ihm fröhlich zu: »To all the girls we used to love«, sang er und fixierte blätternd Artur mit hochgezogenen Brauen, »das ist aus all den Jahren meine kleine feine Berliner Liste. Längst verjährte Träume von einer Sexualtopographie der deutschen Hauptstadt.« »Bist du«, fragte Artur verstört, »wirklich schon ab und zu alt, um dich in fremden Städten noch zurechtzufinden?« Clemens Walter

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen