AN DEN SCHULEN SAGEN DIE KINDER JETZT ÜBEREINANDER, DIESER ODER JENE „IST HARTZ IV“. DAS PROBLEM IST DIE FINANZIELLE ABHÄNGIGKEIT VON DEN LEBENSUMSTÄNDEN DER ELTERN : Bloß keiner von denen sein, denen es nicht gut geht
KATRIN SEDDIG
Als ich mal ein Schulprojekt in einer Stadtteilschule gemacht habe, habe ich dort zum ersten Mal von Schülern den Satz gehört: „Sie ist Hartz IV.“ Nicht. Er lebt davon, nicht: Sie erhält oder bekommt, nein – er ist! In der Folge hörte ich von den Schülern diesen Ausdruck noch öfter, ein großer Teil der Kinder in der Klasse „war“ selbst Hartz IV. Sie lachten darüber, sie rissen ihre Witze, sie wiesen manchmal auf die schlechten Umstände in anderen Welten hin, aber von sich selbst, von ihren eigenen Lebensumständen berichteten sie nichts Schlechtes.
Sie wollten niemand sein, dem es nicht gut geht. Und wer bin ich denn, ihnen nicht zu glauben? Wie vielen Kindern aus wohlsituierten Familien geht es nicht gut? Können wir uns anmaßen, etwas über das hinaus, was uns jemand bereit ist, zuzugeben, über sein Leben wissen zu wollen? So also: „Sie ist Hartz IV.“
In Hamburg wird für manche Kinder das Schulessen von der Stadt bezahlt. Damit die Kantine in der Stadtteilschule Hamburg-Mitte wusste, wie viele Essen sie sich von der Stadt bezahlen lassen musste, hat sie für die geförderten Essen gekennzeichnete Essensmarken benutzt: weiße im Unterschied zu den roten der anderen Kinder. So nachzulesen im Wochenblatt. Über diese Stigmatisierung der Kinder, die mit „Hartz-IV-Essensmarken“ ihr Essen abholen mussten, gab es dann doch mal etwas Ärger, jetzt ist der Missstand anscheinend behoben. Einheitliche weiße Essensmarken, kein Unterschied. Könnte man meinen.
Aber für das einzelne Kind macht es vermutlich kaum einen Unterschied, denn das einzelne Kind „ist Hartz IV“, immer noch. Das ist nicht nur die Essensmarke, das sind auch die Schuhe, die es trägt, der Urlaub, in den es nicht fährt, die Ratlosigkeit, wenn es um den Beruf der Eltern geht, wenn es um Berufe und Zukunft überhaupt geht, wenn es um Stolz geht. Und da ist diese Haltung: „Anderen woanders geht es vielleicht schlecht, aber mir geht es gut“, vielleicht eine gute Haltung. Man will es gut haben. Dieser Trotz hilft. Man bestimmt selbst, man hat es in der Hand.
Das ist ein komplizierter Vorgang, den kennt fast jeder aus seiner Kindheit, den kenne ich von vielen ehemaligen DDR-Menschen, die sich nur an Gutes erinnern können, den kenne ich von Heimkindern, die von einer schönen Kindheit berichten. Ich will nicht, dass man mich falsch versteht: Die Kinder haben Recht. Und ohne Aber. Und wir haben dagegen natürlich nicht das Recht, ihnen zu sagen, wie es ihnen zu gehen hat. Wir wissen es nicht, und wir wissen es auch nicht besser. Wir sind aus unserer Position heraus nicht berechtigter über ein anderes Leben zu urteilen, als sie selbst es sind. Das hieße nämlich, sich zu überheben. Diese Art Mitleid kann ein „Hartz-IV-Kind“, das sich lieber mit grimmigem Humor seinem Leben stellt, nicht gebrauchen.
Vielmehr müsste es so sein, dass jedes Kind ein einfaches Recht auf ein Schulessen hat. Die finanzielle Abhängigkeit der Kinder von ihren Eltern und deren Lebensumständen ist nämlich die Hauptungerechtigkeit. Kinder sollten mehr der Gesellschaft als den Eltern angehören. Sie sollten von allen gleichermaßen zu unterhalten und zu beschützen, zu fördern und zu stärken sein. Und unter diesem zurechtgerückten Bild wäre es vollkommen unwichtig, einzelne Essen zu erfassen.
Lassen wir die Kinder essen. Lassen wir die Stadt dafür bezahlen. Schulkantinen machen keine Riesengewinne, wenn eingeplante Essen nicht gegessen werden, werden sie weggeschüttet. Warum trägt die Stadt diese Verluste nicht mit, indem sie immer und für jeden Tag das Essen der Kinder bezahlt, deren Eltern es sich nicht leisten können? Was für eine Krümelkackerei mit dem Essengezähle? Ist das denn würdig?
Katrin Seddig ist Schriftstellerin und lebt in Hamburg, ihr jüngstes Buch, „Eheroman“, erschien 2012 bei Rowohlt. Ihr Interesse gilt dem Fremden im Eigenen.