AM KANAL (2) : Schiffsuntergang
Eine Boulekugel glänzte in der Sonne. Sie beschrieb einen perfekten Bogen in der Luft und landete passgenau in der Nähe der kleinen Kugel. Der Werfer, ein gedrungener Mann Ende fünfzig, klatschte mit seinen Kindern ab, der Gegner, ein Mann in Gummistiefeln, zollte seinen Respekt. Es war trocken, das Wetter war gut, die Gummistiefel konnten aber noch zum Einsatz kommen, denn den Passagieren des Flüsterschiffs gingen die Schwimmwesten aus. Aber man hat dieser Tage ja schon ganz anderes gesehen. Man hat Leute freiwillig in die Spree und freiwillig in den Kanal springen sehen. Um zu schwimmen. Da freuen sich die Hautärzte.
Noch vor Monaten, vor gefühlten Wochen, spazierten die Menschen auf dem Kanal. Sie zogen Schlitten hinter sich her! Wir saßen weiter am Kanal. Im Rücken die heimeligen Off-Veranstaltungen, die es in Berlin so gibt. Bouleplätze. Flohmärkte. Straßenmusikanten aus Amerika, die von Bar zu Bar zogen und von Mädchenzimmer zu Mädchenzimmer. Irgendwo hatten Tataren gekocht. Im Bellman, erzählte Loretta, gäbe es noch Plätze, falls es kalt werde später oder zu dunkel für irgendwas. Das Bellman ist ein Lokal auf der Reichenberger Straße. Der Reiche, wie sie von der Autonomen Abbreviationsbewegung gern genannt wird. Es gab Kerzenlicht und Schichtwechsel, die zwei Todsünden der Gastronomie. Es gab eine neue Bewirtung. Kurzzeitig hatte das Finanzamt den Laden geschlossen. Der vormalige Besitzer saß nun in Moabit oder auf Mallorca oder in Monaco auf der Steuerflucht. Neben dem Kapitän der „Nostalgie“.
Die Bedienung war eine unerreichbare Schönheit, der am Ende der Filzstift versagte. So kamen wir doch noch ins Gespräch. Ich dachte, ich möchte mit ihr an Bars stehen, ohne Sexerwartung. Ich dachte, ich möchte mit ihr am Kanal sitzen und warten. Auf das nächste Schiff, das untergeht. RENÉ HAMANN