ALTER MEISTER:
Die Fotos vom Mittagessen sind das Stillleben der digitalen Gegenwart. Wie die alten Meister versuchen die gegenwärtigen Künstler die einzelnen Bestandteile der Mahlzeit ansprechend zu arrangieren, um ein möglichst stimmiges Bild zu bekommen, das sie mit aller Welt teilen können.
Auch der 63-jährige Jürgen, Rentner und Bewohner eines Seniorenheims, ist unter die Künstler gegangen.
Er hat das Essen, das er in seiner Einrichtung bekommt, fotografiert. Jeden Tag mehrere Bilder: Frühstück, Mittagessen, Kaffeepause, Abendessen. Er beweist bei der Auswahl und Ausrichtung seiner Motive künstlerische Finesse. Seine Bilder von Fleischbrei, Kartoffelbrei und Breibrei bilden in ihrer Darstellung eine Dreifaltigkeit der Depression.
Die nicht vorhandenen Unterschiede der Bestandteile in Konsistenz und Farbe sind eine beißende Zurschaustellung des grauen Alltags. Um den Hauptgang hat er eine Schale Salat, Suppe und ein Glas Himbeersaft drapiert. Selbst der kleine Farbklecks durch den Saft, schafft es nicht, die dröge Stimmung im Bild aufzuhellen. Im Gegenteil: Es ist eine geradezu groteske Verhöhnung des faden Bildes. Es ist die Weiterentwicklung des Barock.
Die strahlenden Farben sind verblasst und die üppigen Gaben verschwunden. Die Symbolik des „Memento Mori“ tritt nicht mehr subtil, sondern ganz deutlich auf. Jürgen ist es gelungen, in seinen Bildern den faden Schein des weltlichen Lebens im Altersheim einzufangen. LOU
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