ALS ICH FRISCH VON DRÜBEN KAM, BEHAUPTETE MAL EINER, MAN ERKENNE SOLCHE WIE MICH AN UNSERER OBRIGKEITSHÖRIGKEIT. HIER UND JETZT IST ES AUCH NICHT BESSER : Die Leute wollen Ohrfeigen
KATRIN SEDDIG
In der Hamburger U-Bahn wird nicht mehr darum gebeten, zurückzubleiben. Es ist nicht mehr wie seit hundert Jahren schon, alles wird schlechter und die Welt immer kälter. Keine freundliche Frauenstimme mehr, keine Menschlichkeit und keine Höflichkeit. So ungefähr beschweren sich die Menschen. Die Menschen mögen nicht, wenn Dinge geändert werden. Es soll alles so bleiben, wie es war, insbesondere, wenn es sich um winzige Details handelt.
Ich selbst benutze regelmäßig die U-Bahn und es ist mir einmal passiert, dass ich, um die bereits eingefahrene Bahn noch zu erwischen, die Treppe hinuntergestolpert und mir den Fuß verstaucht habe. Das hat mir die Augen geöffnet. Ich hetze nicht mehr, die U-Bahn verkehrt alle fünf Minuten, in den Stoßzeiten noch öfter, es gibt keinen Grund, sich den Fuß zu verstauchen.
Aber die Leute hetzen gern. Wenn die freundliche Frauenstimme bisher ums Zurückbleiben bittet, springen, stolpern, jagen sie um ihr Leben, reißen Kinder um, stoßen, und quetschen sich in letzter Sekunden zwischen die sich bereits schließenden Türen, als bedeute es etwas, als ginge es mindestens um Leben und Tod. Keuchend lassen sie sich dann auf dem Sitz nieder, zufrieden, dass sie wieder drei Minuten gespart haben. Dafür lohnt sich doch der Herzinfarkt, das Geschubse und der verstauchte Fuß. Ich bin, wie erwähnt, geheilt. Ich musste mich anfangs zwingen, jetzt kann ich gelassen die Bahn wegfahren lassen. Das Einige-Minuten-Warten ist keine Katastrophe.
In meiner Kindheit haben wir Stunden auf Busse und Bahnen gewartet, wir sind oft nach langer Wartezeit, wenn der Bus dann doch wieder ausfiel, zu Fuß die paar Kilometer durch den Wald nach Hause gelaufen. Wenn uns unterwegs noch was einfiel, konnte der Heimweg, der leider eine andauernde Steigung hatte, ewig dauern, ich konnte unterwegs am See meinen Turnbeutel verlieren, während wir nach Krebsen guckten, wir konnten mutig die Abkürzung über den steilen Hang hoch nehmen, „Knochenbrecher“ genannt, wo wir dann auf dem Lehm ausrutschten und sich einer das Kinn an einem Stein aufschlug.
Es konnte dauern, weil es Pflaumen gab und wenigstens einer von den vielen Bienen zwischen dem matschigen Obst gestochen wurde. Es konnte auch dauern, weil es Gespräche gab: darüber, wer in wen verliebt war und wer wen gerade hasste. Manchmal dauerten Heimwege, nachdem der Bus ausgefallen war, auf den wir viel zu lange noch gewartet hatten, zwei Stunden. Aber uns fiel das gar nicht auf, wie viel Zeit wir mit dem Heimweg vertrödelt hatten.
Jetzt und hier in der Erwachsenenwelt, in der großen Stadt, ist es so: Jetzt will einer, und ich schließe mich nicht aus, gerne drei Minuten sparen und verliert dabei seinen gesunden Knöchel und stößt dabei eine alte Frau zur Seite und schubst ein Kind. Deshalb denke ich, haben die Leute eine freundliche Frauenstimme nicht verdient. Gar nichts haben sie verdient. Ein Sirenengeheul haben sie verdient, einen Stromschlag, einen Schlag ins Genick. Die Frauenstimme ist überholt, die Leute ignorieren Höflichkeit, sie wollen Ohrfeigen, sie wollen Schärfe.
Als ich frisch von drüben kam, sagte mir mal einer, die Leute aus dem Osten erkenne man daran, dass sie bei Rot nicht über die Straße gingen. Ich fühlte mich ertappt. Sind wir so obrigkeitshörig, dachte ich? Die Leute jetzt und hier unterwerfen sich auch, musste ich feststellen, sie unterwerfen sich dem Stärkeren, dem, der die Macht hat, Geld, Muskeln, Lautstärke. Die Leute unterwerfen sich nicht aus ideologischen Gründen, sie unterwerfen sich aus Angst. Bitte, auch nicht besser.
Das neue Signal finde ich super. Die Frau war sowieso nicht echt, die war auch nur ein Signal, aber ein luschiges. Katrin Seddig ist Schriftstellerin in Hamburg, ihr jüngstes Buch, „Eheroman“, erschien 2012. Ihr Interesse gilt dem Fremden im Eigenen