ALLES FRANZÖSISCH : Fremde Märchen
Heinz Rölleke hat eine Stimme, die ist so tief wie die vom bösen Wolf selbst. Am Dienstag hielt er im Grimmzentrum einen Vortrag über das Märchen vom Rotkäppchen. Er ist nämlich nicht nur Märchenforscher, er ist sogar der Albert Einstein unter den Märchenforschern. Er hat einen lustigen Akzent. „Expochtartikel“ sagt er, mit „ch“ in der Mitte, „Expochtartikel Grimm“. Rölleke trägt eine Goldrand-Lesebrille, über die er drüberguckt, wenn er direkt ins Publikum blickt. Und er hat mohrrübensaftrote Haare, obwohl er schon über siebzig ist.
Während der napoleonischen Besatzung wollte man alles, was irgendwie französisch war, aus den Märchen ausmerzen. „Ausmechzen“, sagt Rölleke. Deshalb wurden die Prinzessinnen zu Königstöchtern umgeschrieben, und die meisten Feen, von denen es in den französischen Märchen nur so wimmelte, wurden ersatzlos gestrichen.
Einige, wie das Märchen vom Blaubart, wurden als zu französisch aus Grimm-Ausgaben ausradiert. Der gestiefelte Kater genauso, auch er ein Franzose. „Nein!“, ruft Paul, als ich ihm das abends erzähle. Er mag die Franzosen nicht. Sagt er. Angeblich hat es irgendwas mit seinem Beruf zu tun. Paul ist Historiker. Ich nehme ihm die Sache aber nicht ab. Zwei seiner besten Freundinnen sind zur Hälfte französisch. Dornröschen ist auch französisch – Kein Wunder, bei dreizehn Feen! – Schneewittchen auch, Aschenputtel? „Hör auf, stopp!“, ruft Paul. „Ich lasse mir doch von dir nicht meine Kindheit kaputt machen. Am Ende erzählst du mir noch, es gebe keinen Weihnachtsmann!“
Der Vortrag war jedenfalls sehr schön. Am Schluss hat uns Rölleke noch Ringelnatz’ Version vom Rotkäppchen vorgelesen und zwar so großartig, dass ich danach zu ihm hingegangen bin und gesagt habe: „Wenn das mit der Wissenschaft nichts wird, Herr Rölleke, dann sollten Sie Märchenerzähler werden.“ Da hat er laut gelacht. LEA STREISAND