AKW Greifswald: Das Ende der Laufzeit
Der Rückbau des Atomkraftwerks Greifswald ist das weltweite größte Projekt dieser Art. Bis 2013 wird das AKW zerlegt sein.
Während gut gebräunte Urlauber in den Eisdielen von Lubmin vom Aufschwung des ostdeutschen Ostseetourismus künden, ist ein paar Kilometer weiter südlich Zerstörung angesagt. In der Lubminer Heide reißen frühere Kraftwerker ihren alten Arbeitsplatz ab. Mehr als zwei Millionen Tonnen Stahl und Beton müssen abgetragen, zerlegt und von radioaktiver Strahlung befreit werden. Der "Rückbau" des Atomkraftwerks Greifswald, wie der Abriss im Branchenjargon heißt, ist der größte einer kerntechnischen Anlage weltweit.
Wenn die Schweißgeräte und elektrischen Sägen 2013 verstummen, wird das Projekt mehr als 3 Milliarden Euro verschlungen haben - wenn es dabei bleibt: Die Kalkulationen mussten schon häufiger nach oben korrigiert werden. Den ursprünglichen Plan, sämtliche Gebäude abzureißen und das 450 Hektar große Areal wieder zur Wiese zu machen, ließ die Bundesregierung fallen. Nur noch die Innereien des Kraftwerks sollen ausgebaut, weggeschafft oder vor Ort eingelagert werden.
Das AKW Greifswald war einmal das größte der DDR. Seine fünf Reaktorblöcke produzierten zeitweise rund 10 Prozent des in Deutschland Ost benötigten Stroms. Doch weil nach dem Super-GAU in Tschernobyl die sowjetischen Reaktoren nicht länger als sicher galten, beschloss die Bundesregierung nach der Wiedervereinigung, das AKW stillzulegen und abzubauen. Der Bau von drei weiteren, fast fertigen Blöcken wurde gestoppt.
Rückbau: Neben alten Forschungskraftwerken aus den Anfängen des Atomzeitalters werden außer den ehemaligen DDR-Atomkraftwerken derzeit die Meiler in Würgassen, Stade und Obrigheim abgebaut. In den stillgelegten Hochtemperaturreaktoren Hamm und Jülich muss die Strahlung erst noch weiter abklingen.
Abfälle: Wegen der teils extrem hohen Radioaktivität dauern die Arbeiten Jahrzehnte. Der strahlende Schrott soll einmal ins Endlager Schacht Konrad, die abgebrannten Brennelemente kommen in ein Lager für hoch radioaktive Abfälle - wann und wo es gebaut wird, ist offen. Besonders große Probleme bereitet der Rückbau der Versuchs-Wiederaufarbeitungsanlage Karlsruhe. Die in Salpetersäure aufgelösten extrem radioaktiven Abfälle sollen ins Zwischenlager Nord geschafft werden. RP
Die Ausschreibung für die Demontage des Kraftwerkkomplexes gewann der frühere Betreiber: Die Energiewerke Nord (EWN) sind der Rechtsnachfolger des "Volkseigenen Kombinats Kernkraftwerke Bruno Leuschner". Weil das Bundesfinanzministerium alleiniger EWN-Gesellschafter ist, muss der Steuerzahler für die immensen Abrisskosten aufkommen. In der Lubminer Heide sind von einstmals bis zu 5.000 Beschäftigten des Kombinats derzeit noch 850 bei den EWN in Lohn und Brot, weitere 160 arbeiten am Rückbau des zweiten abgeschalteten DDR-Atomkraftwerks, des AKW Rheinsberg.
"Die meisten sind natürlich nicht mehr in ihren alten Jobs tätig", sagt der Öffentlichkeitsarbeiter Armin Lau, der 1977 im Kernkraftwerk Nord eine Lehre als Elektrotechniker begann und heute Fachbesucher und Journalisten durch das Labyrinth der Gänge und Hallen führt. Wäre es nach ihm gegangen, würden die Reaktoren in der Lubminer Heide wohl noch heute Uran spalten. Aus seiner Sicht und der vieler Kollegen kam die Entscheidung für den Abriss des Atomkraftwerks zu schnell und zu unbedacht. Inzwischen hat er sich mit dem Abbau arrangiert, der ihm das Auskommen sichert.
"Als Erstes mussten die Brennelemente aus den Reaktoren raus", sagt Armin Lau. Die Brennstäbe wurden zunächst in einem Wasserbecken zwischengelagert, um dort einen Teil ihrer Radioaktivität und Zerfallswärme abzustoßen. Zeitgleich begann der Bau des Zwischenlagers Nord. Das ist ein eigener Hochsicherheitsbereich auf dem Kraftwerksgelände: Wachleute mit Hunden patrouillieren rund um die Uhr an der Umzäunung. Wer überhaupt bis hier durchgelassen wird, muss sich peniblen Kontrollen unterziehen, immer wieder neue Schleusen und Sperren passieren, er bekommt ein Dosimeter und muss in weiße Schutzkleidung schlüpfen.
Am Eingang zu Halle 8, in der sich die Castorbehälter mit den verbrauchten und stark strahlenden Brennelementen befinden, öffnet sich durch einen unsichtbaren Hydraulikantrieb noch einmal eine dicke Stahltür. Dicht an dicht stehen die 62 blauen Behälter vom Typ Castor 440/84 senkrecht auf dem blank geputzten Boden. Jeder enthält 84 Brennelemente. Außer uns ist kein Mensch in der Halle. Langsam geht Lau auf eine der gusseisernen Tonnen zu und legt seine Hand kurz auf die Kühlrippen. "Ist ganz warm", sagt er, "wollen Sie auch mal?"
Wie eine Flotte havarierter U-Boote liegen in Halle 7 die aus den Kraftwerksblöcken ausgebauten Dampferzeuger. 160 Tonnen wiegt jedes dieser Ungetüme. Nachdem sie einen Teil ihrer Strahlung abgeben haben, werden sie in hermetisch abgetrennten Kammern, sogenannten Caissons, zersägt, in immer kleinere Teile geschnitten und in verschiedenen Arbeitsgängen dekontaminiert. Nur durch dicke Panzerglasscheiben können wir einen Blick in die Caissons werfen. In einer der Kammern zertrennt eine überdimensionale Bandsäge dickwandige Metallzylinder. Sägen und Schneidbrenner zerschreddern sie zu kleinteiligem Schrott. Mit ihren Plastikvisieren, Schutzhauben und Anzügen wirken die Schweißer wie Astronauten.
Die schwach und mittel radioaktiven Abfälle und Reststoffe passieren zunächst die Zentrale Aktive Werkstatt (ZAW). Während des Kraftwerksbetriebs diente die knapp 3.000 Quadratmeter große Halle als Reparaturwerkstatt für defekte Bauteile. Jetzt werden hier Kraftwerkskomponenten zerlegt und durch verschiedene Verfahren, so weit es geht, von radioaktiven Verschmutzungen und Belägen, aber auch von Korrosionsstoffen und Altanstrichen gereinigt.
Imposantes Gerät
Für die Arbeiten steht in der ZAW ein imposantes Arsenal an Maschinen und Werkzeugen zur Verfügung: elektrische, thermische und hydraulische Sägen und Scheren, die 20 Zentimeter dicke Stahlplatten zerschneiden wie Kuchenteig. Hochdruckwasserstrahlreinigungsanlagen mit Wasserdrücken von bis zu 2.000 bar, chemische und elektrolytische Dekontaminationswannen mit Stromstärken zwischen 1.000 und 2.000 Ampere. "So gut wie wir ist kein Unternehmen auf der Welt ausgerüstet", sagt Armin Lau.
Mit ihrem Know-how als nukleare Abrissexperten expandierten die EWN zunächst nach Westen. Sie übernahmen 2003 die Firmen, die den Abbau eines Versuchsreaktors in Jülich und der Wiederaufarbeitungsanlage in Karlsruhe bewerkstelligen sollen. Im Forschungszentrum Jülich steht eine Miniaturausgabe des Hochtemperaturreaktors (HTR). Der 4 Milliarden Mark teure Prototyp wurde später in Hamm gebaut, er brachte es nach etlichen Pannen aber nur auf rund 400 Betriebstage. Nachdem auch Südafrika kürzlich seinen Verzicht auf den Bau eines HTR erklärt hat, gilt die Reaktorlinie weltweit als gescheitert. Auch für die Pilotwiederaufarbeitungsanlage im Forschungszentrum Karlsruhe gibt es keinerlei Verwendung mehr, der Bau einer kommerziellen WAA scheiterte in der Bundesrepublik Ende der 80er-Jahre.
Im "Projekt Murmansk" leiten die EWN seit 2007 die Verschrottung von etwa 120 abgewrackten atomgetriebenen U-Booten der ehemaligen sowjetischen Nordmeerflotte. Unter der Regie der deutschen Ingenieure ist in der Saidabucht mit dem Bau eines Langzeitzwischenlagers begonnen worden, nächstes Teilprojekt ist die Zerlegung der bis zu 170 Meter langen U-Boote in kleine Komponenten auf der russischen Nerpa-Werft. EWN-Geschäftsführer Dieter Rittscher ist stolz auf dieses Projekt: "Unser Unternehmen hat mit der Entsorgung von Atom-U-Booten Neuland betreten."
Und auch in der Lubiner Heide tut sich wieder was. Die EWN, sagt Rittscher, wollen den früheren AKW-Standort "zu einem wichtigen Energie- und Technologiestandort in Mecklenburg-Vorpommern entwickeln". Er verweist auf die vorhandene Infrastruktur wie Straßen und den kleinen Industriehafen sowie die Anbindung des Areals an die Schaltanlage und das Hochspannungsnetz von Vattenfall Europe.
Angebote für Investoren
Investoren, die den Industriestandort wieder beleben wollen, bieten die EWN Flächen und Immobilien zum Kauf oder zur Pacht an. Als wichtigstes Zukunftsprojekt gilt die Anlandung der deutsch-russischen Gaspipeline North Stream. Auch der Bau neuer Kraftwerke auf der Basis von Gas und Kohle ist angelaufen. Zwei Gaskraftwerke mit jeweils 1.200 Megawatt Leistung wurden bereits genehmigt. Seit 2006 bemüht sich der dänische Staatskonzern Dong Energy um die Bewilligung des Bau eines Steinkohlekraftwerks.
Im früheren Maschinenhaus des Kraftwerks herrscht Hochbetrieb, hier tragen die Arbeiter nur Bauhelme und Staubmasken. Es sind auch keine EWN-Leute, denn die rund einen Kilometer lange, fast 50 Meter breite und 30 Meter hohe Halle, die früher die Generatoren und Turbinensätze des Kernkraftwerks beherbergte, wurde nach der Räumung an andere Unternehmen vermietet. Eines fertigt Schiffssegmente, im anderen Hallenteil baut eine Firma Schwimmkräne.
Das nahe Ostseebad Lubmin setzt jetzt auf einen Aufschwung des Tourismus. "Weite Strände, Kliffküsten sowie malerische Kiefernwälder bieten Natur pur", wirbt der Ort aktuell auf seiner Homepage. Zu DDR-Zeiten störten sich Urlauber nicht an Kühltürmen und Reaktorkuppeln; Atomkraftwerke galten weithin als Symbol des technischen Fortschritts. Jetzt macht gegen das geplante Kohlekraftwerk eine Bürgerinitiative mobil.
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