: AIDS nicht politisch aufladen
Experten konstatieren erheblichen Rückgang von Neuinfektionen / Frau Süssmuth eröffnete AIDS-Kongreß ■ Aus München Wolfgang Gast
In ihrer Eröffnungsrede auf dem „Deutschen AIDS-Kongreß“ in München warnte gestern Bundesfamilienministerin Rita Süssmuth erneut vor Zwangsmaßnahmen bei der Bekämpfung der tödlichen Immunschwäche AIDS. Ohne den bayerischen Innenstaatssekretär Gauweiler beim Namen zu nennen, widersprach sie dem „apokalyptisch ausgewiesenen Untergang“ und erklärte: „Es gilt, die Krankheit zu bekämpfen und nicht die Menschen.“ Eine Politisierung der Krankheit AIDS müsse verhindert werden. Die größte Gefahr bestehe darin, so die Ministerin weiter, daß „AIDS eine Metapher für politischen Kampf wird“.
Bei dem zweitägigen Fachkongreß mit etwa zweitausend Teilnehmern gab sich Frau Süssmuth überraschend moderat. In einer vorab verbreiteten schriftlichen Fassung ihrer Rede hatte sie denn auch vor Zwangsmaßnahmen wie der einer Massentestung auf HIV- Infektionen gewarnt und vermutet, daß dadurch die Betroffenen „von der Bildfläche vertrieben werden, so daß wir mit unseren Kampagnen ins Leere stoßen“. Sie appellierte stattdessen an die Kongreßteilnehmer, daß im Umgang mit der Krankheit „Vernunft und Menschlichkeit nicht auseinandergerissen werden“.
Professor Koch von der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung benannte zu Beginn der insgesamt 178 einzelnen Referate, mit denen der neueste Stand der Forschung und Wissenschaft in der Bundesrepublick erläutert werden soll, die aktuellen Daten seiner Behörde. Demnach sind in Deutschland 1661 AIDS-Fälle registriert. Etwa die Hälfte der Kranken ist dabei bislang an der Krankheit verstorben. Die Anzahl der Fälle sei zwar weiterhin exponentiell ansteigend, eine der wichtigsten Erkenntnisse sei jedoch, daß die Anzahl der Neu-Infektionen erheblich zurückgegangen ist. Waren es 1982 bei einer Untersuchung von über 800 homosexuellen Männern noch über die Hälfte, die mit dem HIV-Virus infiziert waren, so sind im vergangenen Jahr lediglich zehn neue Fälle hinzugekommen. „Der befürchtete Einbruch in die Bevölkerung ist nicht erkennbar“, erklärte Koch weiter und belegte dies mit den jährlich zwei Millionen getesteten Blutspendern. Bei ihnen sei pro hunderttausend Tests in nur ein oder zwei Fällen eine HIV-positive Testreaktion festgestellt worden. Wenn auch die Anzahl der AIDS-Kranken weiter steige, so sei trotzdem ein erster Erfolg, daß die Infektionsrate zurückgegangen sei. Zurückführen lasse sich dies darauf, daß das Bewußtsein in den Risikogruppen erheblich gestiegen ist. Die Risikogruppen der Homosexuellen und Fixer stellten mit 80 Prozent auch weiterhin den überwiegenden Anteil der Kranken. Von den gemeldeten Fällen haben sich 2,3 Prozent infolge einer Bluttransfusion und 3,3 Prozent durch heterosexuellen Geschlechtsverkehr infiziert. 1.103 AIDS-Fälle wurden in den Großstädten mit insgesamt 8,5 Millionen Einwohnern registriert, im restlichen Bundesgebiet gebe es bislang weniger als 500 Erkrankungen.
Nach Professor Habermehl vom Institut für klinische und experimentelle Virologie an der Freien Universität Berlin sind seit der Einführung der Labormeldepflicht 15.000 Infizierte bundesweit gemeldet worden – weit weniger, als von der Experten befürchtet worden war. Der Zahl zugrunde gelegt sind etwa 50.000 HIV-Tests, die Dunkelziffer sei dabei schwer auszumachen. Die Zahl der Infizierten wachse nach seiner Schätzung in die Zig-Tausende, aber nicht, wie vielfach spekuliert, in die Hunderttausende.
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