ACHSE DES FOLK VON ULRICH RÜDENAUER : In der Unterwelt
Anaïs Mitchell: „Hadestown“ (Righteous Babe/Warner)
Das ganze Theater begann bekanntlich damit, dass Pete Townshend die Rockoper „Tommy“ schrieb. Mit Tom Waits’ Adaption des „Freischütz“ hörte der unaufhaltsame Drang der Popwelt zur Hochkultur lange nicht auf. Anaïs Mitchell geht hinter diese unsägliche Rockopern-Vergangenheit zurück und knüpft an die Gattung der „Folk-Opera“ an, die mit Gershwins „Porgy and Bess“ ihren Anfang nahm. Mitchell schreibt sie post-apokalyptisch fort. Die Songwriterin aus Vermont greift dafür tief in die griechische Mythologie-Kiste. „Hadestown“ erzählt die Geschichte des Sängers Orpheus, der seine Eurydike an die Unterwelt verliert, transponiert in die Zeit der Großen Depression – und damit irgendwie auch in die kriselnde Gegenwart. Die Rollen sind prominent besetzt: Justin Vernon von Bon Iver gibt einen verzweifelten Orpheus, Greg Brown leiht Hades seine düstere Stimme, Ani DiFranco singt die Rolle seiner Gattin Persephone, die Haden-Schwestern agieren als Bluegrass-Schicksalsgöttinnen, und Anaïs Mitchell selbst verkörpert Eurydike. Stilistisch bewegt sich das zwischen traditionellem Folk, Norah-Jones-Kaffeehausmusik, New-Orleans-Jazz, Indie-Folk-Pop, Roots-Musik und Tom-Waits-Brummeligkeiten. Der Zyklus ächzt unterm Kunstwillen, die Songs für sich genommen aber entwickeln Reiz: ausgeklügelte Arrangements, hübsche Melodien, feine Lyrics. Einer der seltenen Fälle, bei denen das Ganze weniger ist als die Summe der einzelnen Teile.
Über dem Sturm
The Wave Pictures: „Susan Rode The Cyclone“ (Little Teddy/Cargo Records)
Lange nichts mehr von den Violent Femmes gehört! Macht aber nichts. The Wave Pictures helfen einem über den Verlust hinweg. Sänger David Tattersall klingt so cool hibbelig und zugleich gelangweilt wie Gordon Gano zu seinen besten Zeiten, und dabei kommen die Wave Pictures nicht mal aus den USA, sondern ursprünglich aus einem englischen Kaff namens Wymeswold. Bereits 1998 hat sich die Band gegründet, inzwischen sechs offizielle Alben herausgebracht, dazu etliche weitere Songs per Internet unter die Hörer gebracht. Wenn die Engländer schon im Fußball keinen Blumentopf gewinnen, von den großen Weiten der Great American Music können sie träumen wie niemand sonst. In puristisch-akustischem Gewand mit Gitarre, Bass, Schlagzeug zerschmettern die Wave Pictures einmal mehr und eben doch ganz frisch die Vorstellung, dass mit alten Mitteln keine neuen Erregungen zu erzeugen wären: Wunderbarer Neo-Folk-Punk ist das, hochenergetisches Quieken, Jammern und Drängeln und schrulliges Melodiewellenreiten, schrammelige Gitarre und dahinholpernde Basslinien – nicht nur Susan, sondern die Band selbst rides the cyclone. War auf dem im vergangenen Jahr erschienenen Album „If You Leave It Alone“, bei dem auch Bläser zum Einsatz kamen, ein pompöseres Setting aufgebaut, geht es nun wieder kalkuliert in sehr (anti-)folkige, spröde, hübsch karge Gefilde. Nicht zum Nachteil der Platte, die echten Rockabilly-Drive hat.
Unter dem Mond
Jane Baxter Miller: „Harm Among The Willows“ (Durga Disc)
„Wir waren Country lange bevor Country cool wurde“, sagte Jane Baxter Miller mal in einem Interview. Ende der 80er war Country tatsächlich nicht sehr angesagt, es gab keine alternative Nashville-Szene, zumindest hörte man nichts von ihr, und auch Johnny Cash streckte dem Establishment noch nicht seinen Mittelfinger entgegen. Damals hatte Baxter Miller zusammen mit ihrer heutigen Schwägerin Kelly Kessler eine Band namens Texas Rubies. Man muss die beiden nicht kennen, aber darf sie sich vorstellen wie zwei 80er-Jahre-Frisur-Mädels, die in Chicago Old-school-Country spielten, mit Jodeln und allem Drum und Dran. Seither pendelte die in Kentucky geborene Künstlerin zwischen Musik und Theater hin und her, war Gastsängerin, Namensgeberin einer R’n’B-Band, zu der auch die genialen Free-Jazzer Ken Vandermark und Ehemann Kent Kessler gehörten. Kessler ist mit seinem hart, solide und vorantreibend gespielten, manchmal effektvoll gestrichenen Kontrabass auch auf Baxter Millers erstem Soloalbum „Harm Among The Willows“ mit von der Partie. Die Geburtswehen bei dieser Platte waren lang, aber das Ergebnis ist hinreißend: sehr reife, zeitlose Hillbilly-Musik mit Fernweh, Mondanheulen, Liebeskummer und einer Erfahrung verbürgenden Heiserkeit in der Stimme. Zehn fast klassische, vom Blues infizierte Country-Songs, dargeboten von einer den Saloon groovenden Band, die wohl nie in der Grand Ole Opry spielen würde. Nichts für Garth-Brooks-Hörer!