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96-Jährige über Gelassenheit„Wie du denkst, denkt keiner“

Die Hamburgerin Ursula Gleim ist 96 Jahre alt. Einsam fühlt sie sich nicht, doch sie kämpft mit den Herausforderungen des Alters.

Foto: Miguel Ferraz
Friederike Gräff
Interview von Friederike Gräff

taz: Frau Gleim, gibt es Momente, in denen Sie sich einsam fühlen?

Ursula Gleim: Ich kann mich nicht erinnern. Ich lebe allein, mein Mann ist vor zwanzig Jahren gestorben. Aber mich trifft die Einsamkeit nicht, weil es Dinge gibt, die bei mir sind.

Zum Beispiel?

Meine Kirche, die Gemeinde, die Musik, die Bücher und die große Familie.

Im Interview: Ursula Gleim

96, geboren in Greifswald, ist als Zehnjährige nach Hamburg-Altona gekommen und lebt seitdem dort. Sie hat drei Kinder, acht Enkel und sechs Urenkel.

Das klingt so, als wäre es wichtig, auch aus sich selbst zu schöpfen.

Die Quelle, aus der ich schöpfe, ist das Wissen, die Bildung. Obgleich es nur die Schulbildung ist, denn ich habe mein Studium abbrechen müssen in der Nazizeit.

Gibt es jemanden Ihrer Generation, mit dem Sie sich austauschen können – jemand, der weiß, was es bedeutet, über 90 Jahre alt zu sein?

Ich habe eine 95-jährige Schwester, die auch – das auch ist eigentlich verkehrt – in guter Gesundheit ist, aber in Süddeutschland lebt. Früher hat sie Querflöte gespielt, jetzt, da das nicht mehr geht, spielt sie Blockflöte und musiziert mit ihren alten Freundinnen. Ich habe sie gerade zu ihrem 95. Geburtstag besucht. Das ist sehr schön: Wir können von unseren Eltern sprechen, wir lesen alte Briefe von unserem Vater vor.

So etwas ist selten.

Es ist uns total wichtig, jetzt gerade in dem hohen Alter. Wir kämpfen beide. Es ist nicht leicht, es ist ein großer Preis, den man bezahlt, wenn man so alt wird.

Womit kämpfen Sie am meisten?

Mit den Zipperlein, die aber keine Zipperlein sind, sondern handfeste Beeinträchtigungen. Ich kann zum Beispiel nicht mehr gut gehen, weil ich nicht mehr die Kraft dazu habe. Und dann gucke ich runter und sehe die jungen Menschen so schnell und flüssig gehen. Das habe ich auch mal gemacht. Wir sind so viel gewandert und wir hatten nie ein Auto.

Wenn der Körper nicht mehr kooperiert, wird er zum Feind?

Ja, das kann man sagen.

Wird dann der Geist noch wichtiger?

Ja, und das war das, was ich vorhin meinte: mit den Büchern, mit der Musik. Man kann das bestimmt auch ohne sie haben, aber ich glaube, es erleichtert es sehr. Kaum eines der Enkelkinder liebt klassische Musik, aber für mich und auch für meine Kinder ist es ganz wichtig.

Was bringen die Enkel und Kinder an Neuem in Ihr Leben?

Ich muss in meinem hohen Alter, meine Tochter will es so, noch Smartphone lernen. Ich finde es enorm schwer und habe keine Lust dazu. Aber meine Tochter lässt nicht locker, ich soll in die Familien-App. Aber ich habe Youtube für mich entdeckt, ich habe einen neuen Computer mit sehr guten Lautsprechern.

Wie erleben Sie Zeit? Es klingt nicht so, als würde Sie ihnen langsam vergehen.

Darf ich Ihnen etwas Schönes sagen? „Wem Zeit ist wie Ewigkeit und Ewigkeit wie Zeit, der ist befreit von allem Leid.“ Mir ist es noch nicht so, ich bin nicht befreit von allem Leid. Es gibt Wochenenden, an denen ich mit niemandem spreche, aber das empfinde ich nicht als schlimm. Ich bin nicht die Person, die hinter jeder Bekanntschaft so wahnsinnig her ist. Leider bin ich auch etwas kritisch Mitmenschen gegenüber und denke: Vielleicht ist es genauso gut, wenn ich allein bin. Ich habe aber durch meine Turngruppe, die ich bis vor drei Jahren gemacht habe, Freundschaften geschlossen. Sie kommen zu meinem Geburtstag oder zum Adventskaffee, aber es ist nicht so oft.

Wie haben Sie selbst als junger Mensch alte Menschen gesehen?

Meine Mutter war, als sie in den 40ern war, wie eine alte Frau gekleidet, man stelle sie sich jenseits von Gut und Böse vor. Als nicht erstrebenswert habe ich es gesehen, glaube ich, aber vielleicht habe ich mir auch keine Gedanken darüber gemacht. Wir haben wenig von unseren Gefühlen gesprochen. Wie auch? Unsere Kinder haben nicht so im Mittelpunkt gestanden wie ihre jetzt, und wir als Kinder auch nicht. Wir lebten in einer großen Altbauwohnung, wir verschwanden hinten und vorne unterhielten sich die Eltern. Unter anderem über Politik, aber nicht mit den Kindern, auch nicht, wenn sie 16 oder 18 waren.

Ist es Ihnen manchmal fremd, wie jetzt mit den Kindern umgegangen wird, wie die Enkel die Urenkel behandeln?

Ja. Aber ihr macht manches besser als wir. Ich kann nur staunen über das freundschaftliche Verhältnis mit den Eltern, das kannten wir gar nicht. Aber manches haben wir auch sehr gut gemacht.

Was ist besser und was schlechter?

Meine Tochter wurde 1949 geboren, das war noch vom Krieg geprägt. Da fing es an. Ich las Bücher, Montessori, da hieß es, man solle dem Kind eine Erklärung geben, wenn man etwas verbot. Die haben wir nie gekriegt. Das finde ich schön. Dass mehr erklärt und gefragt wird. Aber wie schaffen es die Eltern, wenn sie keinen Schlaf kriegen, wenn das Kind zwei Jahre in der Mitte im Ehebett liegt? Ich weiß nicht genau, ob es gut ist, wenn man einem Kind so nachgibt, dass sie kaum etwas essen und alles nicht mögen. Bei uns hieß es: Dann krieg ihr nichts.

Wie haben Ihre Eltern Sie geprägt?

Der preußische Vater: mit Disziplin, die mir heute so sehr nützt. Eigentlich möchte ich morgens lang schlafen, bis neun oder halb zehn, weil ich ganz spät ins Bett gehe. Das gönne ich mir aber nicht, um acht schrillt der Wecker. Weil ich die Erfahrung gemacht habe, der Tag ist nicht so schön, wenn er spät beginnt. Die Disziplin lässt aber nach. Ich glaube, dazu gehört Kraft, das merke ich jetzt. Zum Beispiel passiert es mir jetzt, dass ich Mittag esse, dann die Küchentür zumache und mich hinlege. Das war eine Todsünde in meinem ganzen Leben. Oder jeden Tag rauszugehen. Dieser Friedhof, der direkt gegenüber vor meinen Augen liegt, da ruhen meine Eltern und mein Mann. Das ist wunderschön. Ich schaue auf meine Zukunft. Zum Friedhof könnte ich ja hingehen, aber die Disziplin fehlt immer öfter; ich lasse es auch zu.

Sie sagen das so gelassen: Ich schaue auf meine Zukunft. Selbst als jüngerer Mensch finde ich, dass das ein herausfordernder Gedanke ist.

Das finde ich auch. Das ist mehr etwas, das ich mir selber als Trost zuspreche. Sie wissen, was wir alle wollen: dass wir ganz plötzlich sterben. Aber es verletzt die Angehörigen sehr. Meine Eltern waren beide Pastorenkinder, ich liebe Matthias Claudius so sehr: „Wollst endlich sonder Grämen/ Aus dieser Welt uns nehmen/ Durch einen sanften Tod! / Und, wenn du uns genommen,/ Laß uns in Himmel kommen,/ Du unser Herr und unser Gott!“ Ist das nicht wunderschön! Meine armen Enkel müssen sich diese Gedichte auch anhören.

Ich stelle es mir als eine große Umstellung vor, nach dem Tod des Partners plötzlich alleine zu leben. Wie haben Sie das erlebt?

Das ist eine große Umstellung. Mein Mann war zwölf Jahre älter, er war kriegsbeschädigt, er hatte nur eine Hand. Ich musste viel für ihn tun, das habe ich aber gerne getan. Ich war 77, als er starb, und das ist aus meiner Warte heute ein tolles, jugendliches Alter. Ich habe angefangen, alleine, wenn auch in Gruppen, unsere Reisen fortzusetzen. Es waren gute Jahre und ich scheue mich auch nicht, das zu sagen. Damals habe ich begonnen, mich als Zeitzeugin zu verstehen.

Inwiefern?

Es war lange kein Thema für mich. Gleich nach dem Krieg kam ein Kind nach dem anderen, wir lebten in einem Zimmer, der Mann hatte nur eine Hand und musste wieder in den Beruf eingegliedert werden Dann gab es drei Dinge: eine Reise nach Oradour, eine kleine französische Stadt, wo die Deutschen Menschen in eine Kirche getrieben und sie dann angezündet hatten. Dann die Todesfuge von Paul Celan und das War Requiem von Benjamin Britten. Diese Sachen haben mich so getroffen, dass ich das nachgeholt habe und mich auch immer gefragt habe: Wo ist meine Schuld? Ich kann sie nicht so finden, vielleicht ist das falsch. Heute Mittag war mein Arzt da, er ist so alt wie mein Sohn und ich habe ihm gesagt: Ihr habt keine Schuld, aber die Verantwortung müsst ihr weitertragen. Einmal habe ich einem Chilenen davon erzählt, einem Schüler einer meiner Enkelinnen.

Was haben Sie ihm gesagt?

Ich fange immer so an: Ich habe keinen Mann im Krieg verloren, keinen Bruder, ich bin nicht ausgebombt worden, ich war kein Flüchtling. Ich versuche mir klarzumachen: Warum habe ich nichts von dieser schrecklichen Reichspogromnacht gewusst. Ich war 15, wirklich, ich habe es nicht gewusst. Warum ist der Vater in die Partei eingetreten? Meine Eltern würden sich im Grabe umdrehen, wenn sie meine politische Meinung wüssten.

War Politik ein Thema in Ihrer eigenen Familie?

Mein Mann war sein Leben lang konservativ und regte sich sehr über die 68er-Struktur der Kinder auf. Aber er weckte den Sohn um fünf, weil der in Finkenwerder mit meinem Handfeger, den er in Leim tauchte, irgendwelche Plakate ankleben wollte. Und die Mao-Bibel kam ins Haus. Das musste er aushalten. Die Jungs verweigerten natürlich den Wehrdienst und gingen nach Bremen an die Uni, weil sie röter war.

Hat Ihr Mann sich so mit der Nazizeit beschäftigt wie Sie das taten?

Mein ältester Enkel fragte: Opa, gehst du mit mir in die Wehrmachtssausstellung? Wir sind auch gegangen, aber zu mir hat mein Mann gesagt, er habe immer gedacht, der Enkel wolle ihn anklagen, aber das wollte der ja gar nicht. Er hat nie seinen Arm mit der Prothese zornig in die Luft gereckt und gesagt: „Einem Verbrecher bin ich aufgesessen, einem von uns heraufgebrachten Krieg“. Das kann mich alles aufregen bis heute.

Aber Ihre Ehe hat das ausgehalten.

Ja, die hat es getragen. Vielleicht auch, weil Politik nicht so ein Thema gewesen war. In Oradour sagte eine Mitreisende: Das ist ja das Gegenteil von Frieden, dass wir hier hin müssen. Was sollst Du da sagen? Das war dieses gebildete Publikum. In meinem Bekanntenkreis fiel das Wort gegen mich: „So wie du denkst, denkt keiner.“

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