900 Verfahren auf Schadenersatz in NRW: Aufstand gegen grausame Gefängnisse
Hunderte Gefangene wehren sich in Nordrhein-Westfalen gegen "menschenunwürdige Unterbringungen". Die Justizministerin muss eine "beispiellose Klagewelle" einräumen.
BOCHUM taz Knäste aus dem 19. Jahrhundert, überbelegte Zellen, völlig veraltete Sanitäranlagen: In Nordrhein-Westfalen fordern immer mehr Gefangene bessere Haftbedingungen. Schon heute laufen über 900 Verfahren auf Schadenersatz. Selbst CDU-Landesjustizministerin Roswitha Müller-Piepenkötter habe im Kabinett vor einer "beispiellosen Klagewelle" gewarnt, ist aus Düsseldorf zu hören. "Bislang liegen uns Schadenersatzforderungen von 3,1 Millionen Euro vor", bestätigt eine Sprecherin des Justizministeriums.
Zuvor hatte das Oberlandesgericht Hamm einem ehemaligen Gefangenen eine Entschädigung von zehn Euro pro Hafttag zugesprochen. Der Mann war in Detmold zusammen mit drei weiteren Insassen 230 Tage in einer nur 18 Quadratmeter großen Zelle eingepfercht gewesen. Von einer "menschenwürdigen Unterbringung" könne keine Rede sein, wenn einzelnen Gefangenen weniger als fünf Quadratmeter zur Verfügung stünden, urteilte das Gericht.
Wegen des Strafvollzugs unter Druck steht Justizministerin Müller-Piepenkötter nicht zum ersten Mal: Ihr Rücktritt war schon nach dem Foltermord im Jugendgefängnis Siegburg erwartet worden - dort hatten drei Mitgefangene einen 20-Jährigen im November 2006 geschlagen, sexuell missbraucht und anschließend gezwungen, sich zu erhängen. Und im Dezember 2008 wurde bekannt, dass auch im Gelsenkirchener Gefängnis Häftlinge über Wochen von Mitgefangenen gequält und erniedrigt worden sind.
Eine intern "Liste des Grauens" genannte Aufzählung des Justizministeriums, die der taz vorliegt, listet für 2007 allein 53 "Verdachtsfälle von Gewaltübergriffen unter Gefangenen" auf, darunter immer wieder sexuelle Nötigungen, aber auch "tätliche Auseinandersetzungen" mit "Schnittwunden, Rippenfrakturen, Hirnblutungen". Für das Jahr 2008 zählt die Liste 41 Übergriffe auf, darunter "Platzwunden, Brandwunden". Auch "Nasenbein- und Jochbeinfrakturen" enthält das Dokument.
"Die Unterbringung in Einzelzellen muss endlich Standard werden", fordert der Rechtsexperte der SPD-Landtagsfraktion, Frank Sichau. Nur auf Wunsch oder bei Suizidgefahr könne über Zweimannzellen nachgedacht werden - allein 2008 nahmen sich mindestens 17 Häftlinge in NRW-Gefängnissen das Leben. Nötig sei deshalb nicht nur die von Müller-Piepenkötter versprochene Modernisierung der Knäste, fordern die Landtags-Grünen. Gerade die Versorgung psychisch kranker Insassen müsse verbessert werden. "Nur 130 Psychologen sollen sich um über 18.000 Gefangene kümmern", warnt die Grünen-Politikerin Monika Düker - und das, obwohl mindestens 30 Prozent der Häftlinge im Knast harte Drogen konsumieren und deshalb anfällig für Psychosen seien.
Ein Insider, der seinen Namen nicht in der Zeitung sehen will, geht sogar noch weiter: 80 Prozent der Gefangenen hätten Drogenprobleme, schätzt er. "In allen denkbaren Körperöffnungen" würden die Suchtmittel in die Knäste geschmuggelt. Nötig sei deshalb eine verstärkte Haftvermeidung, etwa durch gemeinnützige Arbeit, sagt die Landtagsabgeordnete Düker. "Leute, die Bußgelder nicht zahlen können, gehören nicht in den Knast."
Dort wächst der Widerstand gegen Müller-Piepenkötter sogar unter den Bediensteten. So seien etwa Beteuerungen des Justizministeriums, den Gefangenen stünden wenigstens abgetrennte Toiletten zur Verfügung, schlicht falsch, schreiben Mitarbeiter des Gefängnisses Duisburg-Hamborn in einem der taz vorliegenden Brief. Ihren Wunsch nach Anonymität erklären die Mitarbeiter der Justizministerin so: "Um Repressalien zu entgehen, verzichten wir auf eine Unterschrift."
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