■ 800 Millionen psychisch Kranker gibt es unter der Weltbevölkerung von 6 Milliarden Menschen. Das diagnostizierte der in Hamburg tagende Weltkongress für Psychiatrie. Wie aber mit ihnen und ihren Krankheiten umgehen? Über Sünden der Wissenschaft in der Vergangenheit und über Verantwortung heute diskutierten Forscher und Ärzte auf dem Kongress, Patienten auf einem Gegenkongress: Kein Balsam für die Seele
Zum ersten Mal findet der Weltkongress für Psychiatrie in Deutschland statt. Noch bis zum 11. August treffen sich in Hamburg 9.000 Psychiater aus 141 Ländern, um die neuesten wissenschaflichen Ergebnisse über die Ursachen und Behandlungsmöglichkeiten psychischer Erkrankungen zu diskutieren. Laut Schätzung der Weltgesundheitsorganisation leiden weltweit über 800 Millionen Menschen an psychischen Erkrankungen wie Depression, Schizophrenie, Demenz, Angst- und Suchtstörungen.
Während deutsche Psychiater im Tagungsort internationale Anerkennung für die Leistungen der neuen deutschen Psychiatrie sehen, kritisierten Betroffene wie der Bundesverband der Psychiatrieerfahrenen (BPE) und der Bund der „Euthanasie“-Geschädigten und Zwangssterilisierten die Veranstaltung und ihren Ort. Während die Veranstalter sagten, dass sich die deutsche Psychiatrie mit ihrer nationalsozialistischen Vergangenheit auseinander gesetzt habe, warfen die Betroffenenverbände den deutschen Psychiatern diesbezüglich Ignoranz vor. Weder hätten sie die Massenmorde an psychisch Kranken in den psychiatrischen Anstalten zur Kenntnis genommen – über 200.000 Kranke wurden Opfer des „Euthanasie-“Programmes der Nazis –, noch hätten sie sich öffentlich entschuldigt. Ein weiterer Vorwurf: Der Weltverband für Psychiatrie habe die deutschen Betroffenenverbände nicht eingeladen. Ein Eintrittspreis von 900 Mark verhindere außerdem die Teilnahme von Patienten. Unfreiwillige Hilfe bekamen die Betroffenenverbände von den Scientologen. Rund 2.000 Mitglieder demonstrierten am Samstag gegen die Gabe von Psychopharmaka und forderten die Abschaffung der Psychiatrie.
Die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde reagierte auf die Vorwürfe der Betroffenenverbände mit einer eigene Aussstellung im Audimax der Universität, die der Opfer des nationalsozialistischen „Euthanasie“-Programms gedenkt und über die Verstrickungen der deutschen Psychiater informiert. Fünf Symposien beschäftigen sich mit der Nazi-Vergangenheit und den Menschenrechten psychisch Kranker heute.
Weitere Schwerpunkte der Tagung sind Strategien gegen eine Stimatisierung der Kranken und neue Ansätze zur integrierten Behandlung psychischer Erkrankungen. „Psychische Erkrankungen nehmen weltweit zu. Ebenso das Stigma, das den Betroffenen anhaftet und die daraus folgende Diskriminierung“, sagt Professor Norman Sartorius, Präsident der WPA und Vorsitzender von 140.000 Psychiatern weltweit. Deshalb sei es Aufgabe der Psychiatrie, wirksame Behandlungsstrategien zu entwickeln, wie es sie beispielsweise für die Depression und die Schizophrenie schon gebe. Gleichzeitig müßten sich Psychiater vermehrt um die psychischen Folgen von Gewalt und Krieg kümmern und der Stigmatisierung von psychisch Kranken entgegenwirken. Daher kündigte Satorius eine internationale Anti-Stigma-Kampagne an. Lokale Initiativgruppen sollen, ausgehend von den Erfahrungen der Betroffenen, den Vorurteilen in der Bevölkerung begegnen.
Doch psychische Erkrankungen werden weithin immer noch nicht als solche erkannt. So berichtet der Mediziner Wolfgang Maier von der Uni Bonn, 34 Prozent aller Hausarztpatienten litten unter psychischen Störungen, von denen 10 Prozent als schwer anzusehen seien. Die verbreitetetsten wie Depression, Angst oder Alkoholsucht würden von den Hausärzten aber nur in weniger der Hälfte aller Fälle erkannt. Psychische Erkrankungen stehen weltweit nach Infektionen und Unfallfolgen mit 10,5 Prozent an dritter Stelle der häufigsten Krankheiten. Und Angststörungen, Depressionen, Alkoholismus und Schizophrenie führen, so eine Statistik der Weltbank, am häufigsten zu Invalidität. Djura Thormählen, Hamburg
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