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700 Folgen "Tatort"Ortlos und wortlos

Kommentar von Klaus Raab

Der 700. "Tatort" ist der erste für das Duo Wuttke/Thomalla. "Todesstrafe" spielt in Leipzig, würde aber überall funktionieren.

Immer wieder sonntags: Schau mir in die Augen, Kleines. Bild: Repro WDR

Eine Totale auf die Stadt, eine Straßenbahn, ein silbergrauer Mercedes. Die Stadt, in die Hauptkommissar Keppler zieht, könnte jede sein: Regensburg, Saarbrücken, Aachen, Frankfurt/Main. Es ist Leipzig.

Vor 38 Jahren fuhr der erste "Tatort"-Ermittler mit dem Taxi aus dem Westen über die innerdeutsche Grenze. Auch dieser Krimi hätte überall spielen können: Dresden, Magdeburg, Rostock, Frankfurt (Oder). Auch das war Leipzig.

Wenn die ARD am Sonntag den 700. "Tatort" sendet - Titel "Todesstrafe", drängt sich also eine Betrachtung der Reihe vor ihrem Entstehungskontext auf. Was war damals, 1970? Was ist heute?

Um es vorwegzunehmen: Vieles ist anders. Was geblieben ist vom "Tatort", sind die Titelmelodie und die föderale Struktur - jede ARD-Anstalt schickt eigene Ermittler los. Immer gewollt ist auch die möglichst realitätsnahe Verpackung eines Gesellschaftsthemas in eine Krimihandlung. Was anders ist, ist die Gesellschaft. Und erst deren Abbildung hat die stukturkonservativ angelegte "Tatort"-Reihe über die Jahrzehnte relevant gemacht - und sie soll aufnahmefähig bleiben für die Bewegung um sie herum.

Auch Leipzig - gerade Leipzig - ist anders geworden seit 1970, und es ist die Leistung dieser Folge, die Veränderung sehr klug zu thematisieren: Das neue Ermittlerteam besteht aus Eva Saalfeld (Simone Thomalla) und Andreas Keppler (Martin Wuttke). Drei Jahre waren sie verheiratet, seit zehn Jahren sind sie getrennt - und nun führt die Arbeit sie wieder zusammen: Er wird nach Leipzig versetzt, und es dauert nur ein paar Filmminuten, bis er sich bei vielen Kollegen unbeliebt gemacht hat. Keppler übergeht sie mit barschen Gesten, die sie ihm im besten Fall als Absonderlichkeiten, im schlechteren Fall als grandiose Unverschämtheiten auslegen. Als er einmal grußlos aus der Gerichtsmedizin stürmt, tröstet Saalfeld die Kollegen: "Man gewöhnt sich dran."

Was Keppler auszeichnet, ist, ein Ortloser zu sein. Das ist im eigentlich regional verankerten "Tatort" nicht völlig neu, aber bei Keppler doch besonders auffällig: Im Moment der Ankunft in der neuen Stadt steckt er bereits in der Routine - der Arbeit. Das hat seine Vorteile, ist doch das schwer Erträgliche an "Tatort"-Folgen, die das Regionale überstrapazieren, dass individuelle Verhaltensweisen von Figuren zu Mentalitäten einer ganzen Region hochgejazzt werden. Wuttkes und Thomallas Vorgänger Peter Sodann, dessen Verwurzelung in einem vorbundesrepublikanischen Muster-Osten noch aus jeder Szene triefte, war so ein Fall: der Osten als Großprovinz - das war Sodann. Der Osten angekommen in Deutschland - das sind Thomalla/Wuttke.

Es ist die Beziehung ihrer Figuren, die diesem neuen "Tatort" das Potenzial verleiht, wiederholbar gut zu sein: Saalfeld, die Teamfähige, steht nachts heimlich vor der Pension des Autisten Keppler, der in der Arbeit alles andere als die Arbeit vergisst, in Mülltonnen klettert und sich den Nadelstreifenanzug ruiniert - und fährt selbstverständlich unverrichteter Dinge wieder ab. Der Eindruck der Nähe und zugleich der Distanz der beiden zueinander erzeugt denselben Effekt wie Kepplers Ankunft in Leipzig, das ihm fremd ist und durch die Arbeitsroutine, die er dort unverzüglich aufnimmt, zugleich vertraut. Die Vertrautheit mit Menschen und Städten und die gleichzeitige Entfernung zu ihnen ist das neue "Tatort"-Motiv. Und für eine Zeit lang wird es für uns Zuschauer toll sein, dabei zuzusehen. Genau so lange, bis das Land sich weiterbewegt hat.

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