6,50 für ein gezapftes Bier auf der Karl-Marx-Straße?! Preise wie in Moskau vor dem RubelABsturz: Zurückschalten auf Berlin
ausgehen und rumstehen
von Sonja Vogel
Seit ich nach einem Jahr in Moskau zurückgekehrt bin, dreht sich die Welt in Zeitlupe. Es liegt aber gar nicht an mir, sondern an der legeren Bräsigkeit Berlins. Ein Leben auf der Überholspur gibt es hier eher nicht. Also erst mal auf die Bremse steigen.
Die ersten Tage bin ich ständig irritiert. Männer können so unterschiedlich aussehen, wenn sie Frisuren tragen. Es gibt so viele Sprachen und noch mehr Hunde. Der Verkehr so geordnet. So viel Dreck. Es ist furchtbar langsam, leise. Klein. Aber auch bunt! Ich verbringe zunächst Stunden in Supermärkten, schnuppere an echtem Käse und drücke mit dem Finger auf das dunkle Brot.
Schnell ist das alles wieder normal. Aber an ein paar Dinge kann ich mich nicht gewöhnen. Die Rolltreppen zum Beispiel, die in Zeitlupe vier Höhenmeter überwinden. Und die U-Bahn? Eine Bimmelbahn. Man wartet minutenlang, der Zug schleicht ein, öffnet lange die Türen. Dann ruckelt er los – ich schaue mir alles in Ruhe an, denn wir werden erst in drei Minuten an der 200 Meter entfernten Station sein. Es ist wie ein Café: Die Leute quatschen, trinken, essen, ein Mann spielt auf einem Keyboard. In Moskau hingegen raste die Metro alle 30 Sekunden ein, Haare flogen, Mäntel und Tüten, wenn die Türen aufgerissen wurden, musste man sich sputen. Drinnen steht man wie im Maschinenraum: Manche Leute tragen Ohrstöpsel. Dafür ist man schnell am Ziel.
Trotz des Rushhour-Menschenstaus fehlt mir die Metro. Sehr. Um etwas Geschwindigkeit zu simulieren, steige ich aufs Rad. Es ist Freitagabend und auf dem Weg zu einer Party radle ich an einem kleinen Park vorbei. Die Bäume sind groß. Ich atme tief ein, wie ich es in Moskau gemacht habe, wenn ich nachts an der nahen Grünfläche vorbeikam. Nächtelang sang dort eine unkaputtbare Nachtigall gegen die achtspurige Straße an. Ein lauter Rülpser bringt mich zurück. Der Betrunkene auf der Parkbank schaut mich an, „Sorry, Lady“ schmettert er. Noises of Neukölln.
In den Schuh sprechen
Offiziell bin ich noch nicht wieder da. Ich treffe also alte Bekannte eher zufällig auf der Straße. Etwa den riesigen Mann mit verfilztem Haar. Wie wir alle ist er die Karl-Marx-Straße runter weiter in den Süden gewandert. Früher stand er stundenlang vor dem Neuköllner Rathaus, um mit wichtigem Gesicht in seinen riesigen Schuh zu sprechen wie in ein Handy. Ich bin sehr froh, als ich ihn wiedersehe.
Abends erzähle ich B. davon. „Andere hocken acht Stunden auf der Arbeit, er tut wenigstens was Vernünftiges“, sagt der abgeklärt. Wir sitzen in einem der Läden, die auf der Karl-Marx-Straße in meiner Abwesenheit eröffnet haben, probeweise: eine winzige Craft-Bier-Bar mit einer unsinnig langen Liste schlechter Biere, die „Dead Pony Club“ heißen. 6,50 Euro kostete ein großes Gezapftes. Ich reibe mir die Augen. Preise wie in Moskau vor dem Rubelabsturz! Trotzig gehe ich aufs Klo und sehe, dass hinter dem ersten Gastraum noch einer liegt. Und dahinter noch einer. Die Räume schieben sich ineinander wie Matrjoschkas. Zuletzt kommt ein Miniaturpartykeller, in dem ein einsamer DJ bedächtig Knöpfchen dreht.
Der nächste Tag ist ein Sonntag. Ich will jetzt kochen. Der Kühlschrank aber: leer. Verwöhnt von den 24/7-Märkten versuche ich den Supermarkt – zu. Ich gehe zum Späti am Eck. Auch zu. Wie bitte überlebt man einen Sonntag ohne Späti? Ungläubig stromere ich durch den Kiez, und ganz langsam verstehe ich, wie es funktioniert: Menschen schieben sich durch halboffene Türen in abgedunkelte Spätis, klopfen, drücken auf versteckte Klingeln.
Wie auf dem Dorf, denke ich, und freue mich über die kleine Aufmüpfigkeit. In Moskau waren im Frühjahr über Nacht Hunderte Kioske mit Bulldozern planiert worden. Ich bücke mich unter einem Rollladen durch und kaufe ein. Aus Prinzip.
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