■ 630-Mark-Jobs: Die Ausnahmen von der Regelung mehren sich: SPD, beruhige dich!
Die Regierung findet alles, nur nicht einen Ausweg aus dem Schlamassel mit den 630-Mark-Jobs. Kaum hatten Zeitungsverleger ihre Beschwerdeadressen beim Kanzler hinterlegt und Kneipenwirte mit Bierstreik gedroht, versprach Kanzleramtsminister Hombach, klaro dürften sie mit Korrekturen am neuen Gesetz rechnen. Gestern landete die SPD-Fraktionsspitze per Bild einen neuen Treffer. Alle Zeitungsausträger, Putzfrauen und Aushilfskellner, die weniger als 30 Stunden im Monat auf 630-Mark-Basis arbeiten, sollen von der Sozialversicherungspflicht ausgenommen werden. Die Verwirrung ist komplett: Arbeitgeber, die 31 Stunden im Monat ihre Büros durchfeudeln lassen, sollen Sozialabgaben zahlen, jene, die eine 30-Stunden-Kraft beschäftigen, kommen ohne Zusatzkosten durch. Innerhalb des Segments der Billigjobber werden zwei Klassen eingeführt. Typisch Schröder-Team. Wenn Lobbyisten auftauchen, wird auf Verlangen nachgebessert.
Zwar kennt auch das derzeit gültige Gesetz eine Ausnahmeregelung. Erdbeerpflücker und andere Saisonkräfte, die maximal 50 Tage im Jahr arbeiten, sind von den Abgaben befreit. Umgerechnet auf eine wöchentliche Arbeitszeit, kommen bei 50 Tagen etwa 30 Stunden heraus. Insofern, könnte man sagen, sei eine 30-Stunden-Regelung für alle nicht mehr als nur eine Angleichung an diese Ausnahmeregelung. Doch die Saisonkräfte werden aus gutem Grund begünstigt: Eine Ernte dauert wenige Tage im Jahr. Mit der nun beabsichtigten Gleichstellung wächst nicht nur das Chaos im Umgang mit dem Gesetz, es werden auch neue Gerechtigkeitslücken innerhalb der 630-Mark-Belegschaften gerissen. Klagelieder über den ungerechten Sozialstaat scheint die SPD Fraktionsspitze allerdings nicht zu fürchten.
Dabei hatte sie die Not des neuen 630-Mark-Gesetzes bereits erkannt. Seit wenigen Tagen prüft eine Unternehmensberatung dessen Praxistauglichkeit. In zwei Monaten soll das Ergebnis vorliegen. Dann wird klar sein, ob wirklich so viele Putzfrauen und Fensterreiniger die geringfügigen Jobs schmeißen, weil sie sich nicht mehr lohnen. Die Wirtschaft zeigt sich nach anfänglichem Unmut ziemlich wendig. Dussmann, H & M, real und andere bieten statt 630ern Teilzeitverträge mit Jahresarbeitszeitkonten an. Warum sollten Zeitungsverleger und Kneipenbesitzer nicht ebenso verfahren? Bis das Ergebnis des Elchtests vorliegt, sollten SPD Politiker lieber ein paar Beruhigungstropfen schlucken, statt hektisch zu fabulieren. Annette Rogalla
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen