56. Eurovision Song Contest: Inflation der Liebenden
120 Millionen Fernsehzuschauer, 10.000 Besucher: Der Eurovision Song Contest wird ein Großereignis, das jeder gut finden darf, ohne sich dafür zu schämen. Schade.
DÜSSELDORF taz | Wer wollte das bestreiten: Die Dimensionen des 56. Eurovision Song Contest in Düsseldorf sind gewaltig. 2.500 Menschen sind als Journalisten akkreditiert; sie kommen aus mehr als vier Dutzend Ländern. Etwa 10.000 Fans dieses Festivals werden in den nächsten Tagen am Rhein erwartet. Ob sie Tickets haben oder nicht: "Das ist unser Woodstock", sagt ein Volunteer, der seit Wochen für dieses Ereignis rund um die Arena der Stadt arbeitet, "da geht man hin, gerade, wenn es im eigenen Land ist."
Allein diese Volunteers. Der NDR suchte Helfer - für alle möglichen Dienste, niedere oder interessante. Der Clou aber: Diese Volunteers, 550 an der Zahl, kriegen gar nix. Keinen Cent. Auch keine Eintrittskarten. Wer hier dient, möchte man sagen, tut es der Sache wegen.
Eine große Sache. 120 Millionen Menschen in Europa werden zuschauen: Der ESC zieht mehr Publikum als alle anderen Events, nur gelegentlich übertroffen durch Fußballspiele. Aber eine europäische Schau, in der es um Punkte und Platzierungen geht? Keine sonst.
Allein: Es ist nicht mehr wie früher. Der ESC, spätestens seit den Partytagen, die Guildo Horn 1998 möglich gemacht hat, ist zu einem Mainstreamereignis geworden, dem jeder Underground verloren gegangen ist. Leider. Aller Charme des Unmöglichen, des Uncoolen ist flöten gegangen. ESC goes Pop, oder wie es Thomas Schreiber, Unterhaltungschef der ARD und Kopf des ESC in Düsseldorf, sagt, der Eurovision Song Contest drückt die nationalen Popkulturen aus - und keine Nischenästhetik mehr. Man möchte hinzuseufzen: Ja, leider.
Okay, den Grand Prix Eurovision de la Chanson, als der er einst in Deutschland firmierte, darf man jetzt gucken. Niemand muss sich mehr schämen. Jedes Jahr sei dieser Termin fest gebucht, da könne kommen, was wolle - so bekannte sich einmal die Grünenchefin Claudia Roth zu diesem Fest. Keiner muss mehr sagen: "Ja, ich guck das, aber nur kritisch." Nein, Partyzonen und Public Viewing sind Stichworte, die in etwa die öffentliche Leidenschaft umreißen, die diesen ESC mittlerweile umweht.
Modernisierung seit Gildo Horn
Manche nennen die Zeit seit Guildo Horn - der längst ja auch eine historische Figur geworden ist - eine der Modernisierung. Eine janusköpfige, möchte man kulturkritisch anfügen, ein Relaunch, eine Gesamtrenovierung, an der vor allem Ländern wie Deutschland oder Schweden gelegen war. Es ging um die Quote, aber nicht allein um diese. Wichtig war die öffentliche Akzeptanz - und um die war es in Deutschland schlecht bestellt.
Natürlich hatte die ARD schon immer ein Juwel des Entertainments in der Hand mit diesem Grand Prix Eurovision. Jahr für Jahr mussten die jeweils verantwortlichen Sender, zunächst der Hessische Rundfunk, später der Bayerische Rundfunk, kaum etwas unternehmen, um faktisch frei Haus hohe Einschaltquoten zu erzielen. Der Eurovision Song Contest hatte schon immer alles, was es braucht, um Interesse zu fundieren: viel Liebe zu ihm, vor allem auch viel Hass. Die einen fanden es toll, die anderen doof - und am Ende kam ein Publikum im satt zweistelligen Millionenbereich zustande.
Aber die Liebenden, jene, die nicht so taten, als hätten sie diese Show nur zufällig gerade gesehen oder gar sehen müssen, waren, falls sie sich kannten, wie eine Undergroundgemeinde. Früher, das war einfach eine bessere Zeit. Es gab Orchester, nicht wie heute Musik vom Band, die nur mit Livegesang ausgefüllt werden muss. Nur in der jeweiligen Landessprache durfte gesungen werden, was den Aficionados das prima Gefühl gab, einen Schritt aus dem Einheimischen ins Internationale wenigstens sprachlich zu tun. Verboten war es anfänglich sogar, in Gruppen aufzutreten; erst als diese Regel ausgehebelt war, wurde dieser Eurovision Song Contest auch für Bands interessant, etwa für Abba aus Schweden. Früher wurden auf der Bühne Abendkleider getragen, und die Herren bevorzugten Fracks und Krawatten. Wer auf sich hielt, guckte diese Show selbst in guten Klamotten.
Der Contest war immer generationenübergreifend
Dereinst, früher, damals: Das war eine Inszenierung von großer Zeitentrücktheit, denn der Beat, das ganze moderne Musikzeug blieb meist draußen. Der Grand Prix Eurovision war ja nie der "Beatclub" mit Uschi Nerke oder "Disco" mit Ilja Richter, also ein juveniles Format, sondern eine generationenübergreifende Geschichte, sonst hätte es ja diese Einschaltquoten nicht gegeben. Gewinnen konnte nur, wer nicht nur die Bravo-Generation überzeugte, sondern auch jene, für die Illustrierte wie die Hörzu maßgebend waren. Ja, dieser Grand Prix Eurovision wurde mit Häme bedacht, verspottet und verlacht, aber das machte die Fans nur bewusst, wie richtig sie lagen: Wer sich lustig machte über diese gelegentlich verstaubte Leistungsschau musikalischen Mühens in Europa, gab nur kund, auf schlecht gebügelte Kleidung, nachlässige Frisuren und unwürdige Körperbewegungen zu halten. Noch 1996 sollte die britische Kandidatin beim ESC in Oslo disqualifiziert werden!
Gina G.s Tanzbewegungen zu ihrem "Ooh … ah … Just A Little" wirkten in den Augen kroatischer und maltesischer Sittenwächter wie Einsprengsel aus einer Peepshow.
Solche Skandale gab es immer, und sie würzten die Suppe dieses Menüs nur umso feiner.
Vor Jahren noch, 1973 war es, in Luxemburg, wo ein simpler Pavillon von der Opulenz einer Kurmuschel in Bad Neuenahr für die Übertragung ausreichte, war alles noch in heller Aufregung, weil Israel erstmals mit von der Partie war. Seither gibt es Sicherheitsvorkehrungen beim ESC; in Düsseldorf aber, darauf ist man wahrscheinlich zu Recht stolz, ist die Sicherheit in etwa so maschendicht gehalten wie an Flughäfen.
Man verrät kein Geheimnis, sagt man, dass dieser bekennende Underground hauptsächlich durch schwule Männer verkörpert wurde. Sie waren (und sind) es, die die Damen (und Herren) auf der Bühne, Vicky Leandros etwa, auch Marie Myriam, Udo Jürgens, Johnny Logan oder Dana International verehrten, weil sie deren Darstellung von Tragödien und Verhängnissen glaubten, weil sie sich in sie hineinfantasieren konnten. Und weil sie Lieder interpretierten, die nicht dem üblichen Mann-trifft-Frau- oder Girl-betet-Boy-an-Schema entsprachen. Der Kulturwissenschaftler Johannes Arens sprach voriges Jahr nach Lenas erstem Platz in Oslo von einer "Entschwulung" des ESC durch den Meister des ESC hierzulande, Stefan Raab, Mentor der Siegerin. In Lena, so Arens, sei nichts mehr, in das sich Männer, die nicht heterosexuell sind, hineinversetzen können. Es seien fahle Mädchenträume, die sie serviert, keine Geschichten von Triumph und Scheitern.
Die Moderne ist nicht aufzuhalten, das ist ohnehin klar. Der Underground der Urgemeinde ist vom Mainstream aufgesogen worden. Könnte sein, dass das als unvermeidlich erkannt werden muss. Der Stoff, aus dem die Träume des ESC sind, ist einfach zu gut, als dass die männlich-heterosexuelle Welt nicht an ihm auch Gefallen finden könnte.
Düsseldorfs ESC wird großartig. Die deutschen Organisatoren werden nach Lage der Dinge alles brillant zur Geltung bringen. Über Düsseldorf scheint seit Tagen die Sonne. Es gibt Stimmen, die dieses Wetter für einfach mitinszeniert halten.
Eine Kritik, die vermutlich zu weit geht.
PS: Lys Assia ist einmal mehr Ehrengast des ESC. Sie war die erste Siegerin dieses Festivals 1956, damals in Lugano. Ihr Credo: "Ich trug auf der Bühne echten Schmuck." Die 87-Jährige empfiehlt sich Jahr für Jahr, wieder für die Schweiz antreten zu dürfen - "denn ich bin ja noch ein Star". Man ist dankbar für diesen Aspekt des Irrealen.
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