42 Stunden Eisenbahn: Mit Tempo 70 auf die Krim
Die Krim ist modern und archaisch, kapitalistisch und postsozialistisch, überteuert und preiswert und hat superreiche und bettelarme Bewohner
Die Zugreise von Berlin nach Simferopol dauert rund 42 Stunden. Ab Berlin fährt der Zug der ukrainischen Bahn das ganze Jahr über jeweils dienstags und freitags. Abfahrten in Simferopol sind jeweils mittwochs und sonntags. Die einfache Fahrt kostet in der 2. Klasse derzeit gut 100 Euro pro Person. Obwohl der Wechsel in ein komfortableres Abteil ausbleibt, muss ab dem Umspurbahnhof Jagodin ein Aufpreis für die 1. Klasse bezahlt werden (ab 28 Euro). Die Preise gelten für die Zweierbelegung eines Abteils. Reist man zu dritt in einem Abteil, wird es billiger. Einen Sparpreis bietet die DB für Hin- und Rückfahrt an (knapp 200 Euro).
Beste Reisezeit ist zwischen Juni und Ende Oktober. Wer einen Urlaub in der kalten Jahreszeit plant, findet im Krimgebirge mehrere Skigebiete vor.
Buchtipps:
Dagmar Sonderegger u. a.: "Die Krim entdecken - Unterwegs auf der Sonneninsel im Schwarzen Meer". Trescher Verlag, Berlin 2007; 15,95 €
Helga Ewert: "Die Krim". Gaasterland Verlag, Düsseldorf 2006; 8,40 €
Arthur Grossman: "Die Krim - Mit Lemberg, Kiew und Odessa". Reise Know-How Verlag, Bielefeld 2006; 19,90 €
Wie mit der Zeitmaschine dorthin verpflanzt, so steht er da: Der Zug der ukrainischen Staatsbahn kauert auf Gleis 12 im hochmodernen Berliner Hauptbahnhof. Gepinselt in den Länderfarben Blau-Gelb, behütet von beuligen Dächern. Ein Waggon ist markiert mit Blechschildern, die in Fraktur- und kyrillischer Schrift die Strecke markieren: "Simferopol - Berlin". Knapp 42 Stunden wird die Fahrt dauern bis in die Hauptstadt der Krim. Vor den Fahrgästen liegen 2.400 Kilometer, eine Distanz, die in einer schnelllebigen Zeit niemand mehr ernsthaft ohne Flugzeug zu bewältigen sucht. Es sei denn, schon mit der Anreise soll der Urlaub beginnen.
"Die Waggons werden in der Russerei in alle Himmelsrichtungen verteilt", sagt ein Schaffner am Gleis kurz vor der Abfahrt. Tatsächlich wird ab Kiew nur ein Wagen mit knapp 30 Reiselustigen die Fahrt Richtung Schwarzes Meer fortsetzen. Der Zug war schon Wochen vorher ausgebucht. Fahrgäste sind Ukrainer oder Menschen mit Verbindungen in das Land. Jedes der zehn Abteile hat drei übereinanderhängende Liegen. Die mittlere kann eingeklappt werden. Der eigenwillige Stilmix in den Abteilen ist unausweichlich: Holzfurnier vergangener Generation, Orientteppiche, Satinvorhänge, rote Samtpolster. Die Fenster lassen sich nicht öffnen. Ein Bordbistro oder wenigstens der Verkauf von Snacks? Fehlanzeige. Nur Tee und Kaffee gibts. Wehe dem, der sich keine Gedanken über Haltbarkeit und Proviant gemacht hat!
Wilhelm Rempel aus Kassel ist mit seiner ukrainischen Frau Sofia und der anderthalbjährigen Eva unterwegs. Die Familie möchte Sofias Vater besuchen, der auf der Krim eine kleines Hotel betreibt. Wie viele saugt er nach der Abstinenz der Nacht Zigarettenrauch und Frischluft gleichermaßen ein. Im engen Gang lässt sich immerhin jedes zweite Fenster öffnen. "Nach der Grenze gehts los", sagt er, "dann kommen die illegalen Geldwechsler. Und später die Miliz, die den illegalen Tausch aufdeckt." Dann die Passkontrolle im polnischen Dorohusk an der Grenze zur Ukraine: Ein Uniformierter mit einem Blick wie ein Laser hat den Waggon betreten und gleicht die Konterfeis in den Pässen mit den lebendigen Gegenstücken vor ihm ab.
"Nehmen Sie, bitte!", fleht eine Alte in bunter Schürze in kernig akzentuiertem Deutsch in Kowel, am ersten Haltebahnhof jenseits der Grenze. Den Neugierigen in den Fenstern hält sie Trauben, Äpfel und Birnen entgegen. Andere Händler haben den Zug betreten und suchen dort ihr Geschäft. Ein Mann zieht an einem Faden aufgereihten Trockenfisch aus einer speckigen Sporttasche. Ein Glück ist das, beinahe hätte es Salzstangen und Senf als letzte Zugmahlzeit gegeben. Wer nicht kommt, sind die illegalen Geldwechsler.
Um seine kranke Mutter zu pflegen, hat Waleri aus Bad Segeberg die Reise angetreten. Er und seine Frau Ilyna sind in Simferopol geboren. Sie leben seit vier Jahren in Deutschland, um dort ihren Ruhestand zu arrangieren: "Rente nicht gut in Ukraine", sagt Ilyna. Nach Deutschland sind sie übergesiedelt, um nach Spuren von Ilynas Vater zu suchen. Als Jude musste der 1939 aus Berlin flüchten und seine Schuhfabrik dem Schicksal überlassen. Gefunden haben sie bis heute nichts.
Nach der zweiten Nacht und einem Zwischenstopp in Kiew, bei dem unser Waggon an einen anderen Zug angekoppelt wurde, geht es durch sandiges Land, vorbei an Datschen, Gemüsegärten und Melonenfeldern. Deutlich wärmere Luft strömt durch den Gang, die Landschaft wandelt sich allmählich zu einer gelb-silbrigen Steppe. Nach 40 Stunden auf Gleisen wird die Landenge von Prekop passiert. Den Übergang zur autonomen Republik Krim markiert ein riesiger Schriftzug: Krim in monumentalen kyrillischen Lettern. Im Waggon bricht jetzt, zwei Stunden vor Simferopol, so etwas wie Hektik aus. Das Gepäck wird verschnürt und viele, auch Waleri und Ilyna, legen bequeme Kleidung ab und eine feinere Garderobe an. In Simferopol löst sich das 30-köpfige Soziotop auf Schienen auf. Das Ziel ist mit einem lauten Quietschen erreicht.
Dort wird das Verkehrsmittel gewechselt. Über das Krimgebirge kann die "Perle des Schwarzen Meeres", wie der rund 80.000 Einwohner zählende Kur- und Badeort Jalta werbend genannt wird, mit dem Trolley auf Europas längster Elektrobuslinie erreicht werden. An der Südküste der Insel wird mehr Geld denn je umgesetzt. 120 Euro für ein Doppelzimmer sind selbst in der Nachsaison in einem Land, in dem das monatliche Durchschnittseinkommen bei rund 300 Euro liegt, keine Seltenheit.
Von einer Preisexplosion spricht Anatoli Lakhno. Der 43-Jährige kutschiert seit vier Jahren Touristen mit seinem Kleinbus über das Halbeiland. Von Jalta nach Sudak, wo eine genuesische Festung die Küste verziert, nach Bakhchysarai, wo der Khanspalast Touristen und gläubige Muslime gleichermaßen anzieht. Attraktionen sind auch das Inselwahrzeichen "Schwalbennest", eine herausgeputzte kleine Burg auf den Klippen, und die mit 380.000 Einwohnern größte Stadt der Krim, Sewastopol, wo die russische Schwarzmeerflotte, einst der Stolz der UdSSR und nun nach langwieriger Auseinandersetzung auf Russland und die Ukraine aufgeteilt, ein rostiges Dasein fristet.
Anatoli ist in Sachen Kapitalismus so etwas wie ein Experte geworden. Als Teil eines Netzwerks motorisierter Guides, die sich über eine Zentrale in Aluschta die Touristen gegenseitig zuschanzen, bekommt er auch seinen Bus immer voll. Er, der für einige Jahre in Dortmund gearbeitet hat, ist mit seinem Salär zufrieden. Besser als in Deutschland verdiene er jetzt, und damit ist er ein kleiner Gewinner im reichen Südteil der Insel. "Touristen mit Geld kommen hierher", grinst er zufrieden. Russen, Weißrussen, Ukrainer. Deutsche und andere Westeuropäer verirren sich selten auf die Krim. Für die Menschen in Russland ist der mediterrane Südzipfel der Ukraine jedoch ein Reisetraum.
Jalta. Der Kurort, in dessen Nähe Stalin 1945 den Liwadija-Palast, die Sommerresidenz des letzten Zaren, für die berühmte Kriegskonferenz auserkor, atmet ausgeprägtes Jahrmarktflair. Jalta ist ein Manifest des Massentourismus. Ein bunter Saum aus Ständen mit Souvenirs, Schießbuden, den besonders gefragten Karaokezelten, klapprigen Fahrgeschäften und ukrainischen "Hau den Lukas"-Varianten versperrt die Sicht auf das anbrandende Meer. Aufgebrezelte Urlauberinnen mit hohen Wangen und langen Beinen (Minirock und Stilettos sind Pflicht!) flanieren in steifer Haltung. Männer in Netzhemden und bewehrt mit spitzen Schuhen bewältigen den Trubel, zwei Liter fassende Bierflaschen fest im Griff.
Ein gänzlich anderes Gesicht zeigt die Krim mit den weitläufigen Steppenlandschaften im Norden. Das Vieh läuft frei herum, Gänse marschieren noch im Marsch, und wenn Autos unterwegs sind, dann sind es nicht die neuen Karossen wie an der Südküste, sondern zumeist klapprige Ladas und vereinzelt Wagen der einstigen Vorzeigemarke Wolga. Am Asowschen Meer, einer über 100 Kilometer langen und teils nur wenige Meter breiten Landzunge, die von der Krim bis ans Festland reicht, herrscht melancholische Einsamkeit. Die letzte Fassade einer ehemaligen Salzfabrik lässt erahnen, dass hier einst Menschen hart zu Werk gingen und dem sehr salzhaltigen See Siwasch, dem "Faulen Meer", auf der anderen Seite der Landzunge die Kristalle in industriellen Mengen abtrotzten. "Heute leben noch rund 80 Menschen hier", weiß Diman aus Kiew, der als Großstädter im Urlaub Menschenansammlungen aus dem Weg geht. Beim Spazieren durch das verfallende Dorf über unbefestigte Staubwege lässt sich nur ein einziger Mann im Garten vor seinem hutzeligen Holzhaus blicken. Vor dem Zaun hält ein flauschiger Hundemischling Siesta. Die Hotspots der Südküste sind Lichtjahre entfernt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
BSW in Koalitionen
Bald an der Macht – aber mit Risiko
Dieter Bohlen als CDU-Berater
Cheri, Cheri Friedrich
Stellungnahme im Bundestag vorgelegt
Rechtsexperten stützen AfD-Verbotsantrag
Selbstzerstörung der FDP
Die Luft wird jetzt auch für Lindner dünn
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“
Hybride Kriegsführung
Angriff auf die Lebensadern