40, 41, 42 – bei keinem Spieler werden die Fehlversuche mitgezählt, außer bei Cristiano Ronaldo: Die Kerben im Kommentatoren-Baseballschläger
PASSIVSPORT
von
Jürn Kruse
Vermutlich hat Gary Lineker angefangen: Irgendwann im Spiel der Portugiesen gegen Österreich kramte der frühere englische Stürmer und heutige BBC-Experte eine Statistik hervor: 35 Freistöße habe Cristiano Ronaldo schon bei großen Turnieren geschossen – ohne Torerfolg, postete er bei Twitter. Daneben stellte Lineker Gareth Bales Quote: zwei Tore bei drei Versuchen.
Herzlichen Glückwunsch.
Das Mitzählen von Ronaldos vergeblichen Freistoßversuchen halten Reporter im deutschen Fernsehen seit Linekers Tweets leider für die Krone des kreativ-süffisant-überheblichen Kommentierens.
Das hörte sich bei Tom Bartels in der 16. Minute des Viertelfinals zwischen Portugal und Polen dann so an: „Jetzt kommt das, was immer kommt. Ich weiß nicht, wie Sie es kommentieren würden zu Hause, Cristiano Ronaldo und seine Freistoßshow?“ Nee, weiß ich auch nicht, Bartels, aber vermutlich nicht so! Aber weiter im Text. „41 direkte Freistöße bei Welt- und Europameisterschaften hat er ausgeführt.“ Aah, endlich kommt die stets fortgeführte Aufzählung. Und was natürlich nicht fehlen darf: „Bislang null Tore.“
Und dann verschießt dieser Trottel Ronaldo wieder! Sein Schuss geht kläglich in die kleine Mauer.
Im Bartels-Sprech hört sich das so an: „Wir machen einen weiteren Strich. Jetzt sind’s 42.“ Öffentlich-rechtliche Schadenfreude.
Ja, Cristiano Ronaldo nimmt sich zu viele Freistöße, auch aus Entfernungen, die einen Torerfolg quasi unmöglich machen. Ja, er ist mit Sicherheit nicht der angenehmste Mitspieler, wenn er wieder einmal einen Kollegen anpflaumt oder bockig stehen bleibt, weil ein Zuspiel schlampig war. Und ja, ich würde auch lieber mit Gareth Bale zusammenspielen, der mich anfeuert, auch wenn ich den Ball nicht richtig stoppen konnte.
Aber: Eine solche XY-hat-schon-soo-viele-Versuche-gebraucht-und-trotzdem-kein-Tor-geschossen-Statistik findet sich zu fast jedem Spieler. Thomas Müller hat beispielsweise bei zwei EM-Turnieren noch keinen einzigen Treffer erzielt. Bei dem sympathischen Bayern ist die Betrachtung dieses andauernden Scheiterns aber eine gänzlich andere: Der arme Junge, der trotz aller Bemühungen immer noch auf sein erstes Tor wartet, aber irgendwann wird das schon, Kopf hoch, Thomas!
Über Cristiano Ronaldo werden derweil Gehässigkeiten ausgekübelt. Das Ronaldo-Runtermachen ist der kleinste gemeinsame Nenner des Pöbels. Jeder Misserfolg ist eine weitere Kerbe im Kommentatoren-Baseballschläger. Es ist unangenehm, dabei zuzuschauen und zuzuhören.
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