341,2: gift gottes :
von EUGEN EGNER
Ein Friedhofsarbeiter überredete 341,2 zu einem Drogenexperiment. Aus einer Wand der Friedhofskapelle, die auch als „Arianerkirche“ bekannt war, hatte der Mann die Heiligen Vier Holzklötze gebrochen, die angeblich aus dem Holz des Kreuzes Christi stammten und von denen jeder einen Erzengel symbolisierte. Durch Verbrennen der Klötze konnte ein starkes Rauschmittel gewonnen werden, die so genannte „Kreuz-Jesu-Kohle“. Die Einnahme dieser Droge gestaltete sich aber über alle Erwartungen grauenhaft. Mit dem Schrei „Das ist das Gift Gottes!“ wurde der Friedhofsarbeiter zu einem amorphen Klumpen.
341,2 geriet völlig aus dem Häuschen. Ohne sich äußerlich verändert zu haben, behauptete er anschließend, molekularbiologische Forschungen zu betreiben; sein Ziel sei die Umwandlung von Fahrrädern in Automobile. Ferner habe die Einnahme von „Kreuz-Jesu-Kohle“ bewirkt, dass er die Verhältnisse seines Energiehaushalts neuerdings nach dem Vorbild der Autobatterie organisieren könne: Indem er arbeite, lade er sich auf. Daher brauche er nur wenig zu essen. Allerdings müsse er viel trinken, könne aber auf Schlaf gänzlich verzichten. Die Tanten wurden deshalb nicht müde zu verkünden: „Unser Neffe ist gebenedeit unter den Ingenieuren. Er hat jetzt die Gabe, ‚Gottes wahres Gift‘, wie Goethe sagen würde.“
Das verschaffte 341,2 Anschluss an den elitären Ingenieurs- und Technikerzirkel der Stadt. Binnen kurzem erfreute er sich dort sogar solcher Wertschätzung, dass Oberingenieur Leibgrus ihm seine Tochter zur Frau geben wollte.
Besagter Zirkel erinnerte in manchem an die Pariser Surrealisten; Aktionen, Manifeste und Ausschlüsse waren an der Tagesordnung. Außerdem galten die Ingenieure und Techniker als furchtbar abergläubisch, ja morbid. Es hieß, sie hielten Séancen ab und trieben sich auf Friedhöfen herum. Ihr zentrales Anliegen war die Erforschung der dumpfen, scheinbar aus großer Entfernung kommenden Knallgeräusche, die an den Meeresküsten zu hören waren. Als mögliche Ursachen wurden erwogen:a) Manöver einer Geisterflotte des letzten deutschen Kaisers;b) geheime Rüstungsfabriken weit draußen in der Nordsee;c) fremde Wesen, die seit Jahrmillionen eine Hochkultur unter dem Meeresboden betrieben.
Oberingenieur Leibgrus ließ sogar ein mit Puppen bemanntes sowie mit einer elektronischen Sende- und Aufzeichnungsanlage ausgestattetes Boot vor der Küste treiben, um zu sehen, was damit geschah.
In seiner neuartigen Verfassung glaubte 341,2 das Rätsel der Knallgeräusche lösen zu können, indem er beliebige Holzklötze unter Strom setzte. Weil er aber in Wirklichkeit außer Bramarbasieren noch immer nichts konnte, setzte er fälschlicherweise sich selbst unter Strom. Danach fühlte auch er sich wie ein amorpher Klumpen und war nicht einmal mehr in der Lage, aus eigener Kraft im Bett zu liegen. Während die Tanten ihn aus der Schnabeltasse fütterten, erfolgte sein Ausschluss aus dem elitären Technikerzirkel. Oberingenieur Leibgrus löste die Verlobung seiner Tochter mit 341,2 und sagte, einen solchen Versager würde er nicht einmal eine von den Puppen aus seinem Boot heiraten lassen.
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